Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)
nicht einmal von ferne mit beunruhigenden Dingen in Berührung zu bringen und zu verhindern, daß sie die Angst kennenlernen oder überhaupt von ihrer Existenz erfahren, ich glaube, es sind zensierte, manipulierte oder geschönte Fassungen der klassischen Märchen der Gebrüder Grimm und von Perrault und Andersen im Umlauf und daß nicht wenige sie ihnen zu lesen geben oder vorlesen, Versionen ohne alles Finstere und Grausame, Bedrohliche und Unheimliche und vielleicht sogar ohne Mißhelligkeiten und Täuschungen. Eine ungeheure Dummheit, meiner Meinung nach. Kindische Eltern. Verantwortungslose Erzieher. Ich würde das als Vergehen betrachten, als verweigerte Fürsorge und unterlassene Hilfeleistung. Denn es schützt die Kinder sehr, wenn sie fremde Angst wahrnehmen und sich auf diese Weise aus ihrer elementaren Sicherheit heraus in aller Ruhe vorstellen, sie stellvertretend erfahren können, durch andere, vor allem durch fiktive Mittelspersonen, wie eine kurze Ansteckung, außerdem ist es nur eine geliehene, weniger eine fingierte. Sich etwas vorstellen heißt anfangen, ihm zu widerstehen, und das läßt sich auch auf das bereits Geschehene anwenden: man widersteht den Mißgeschicken besser, wenn es einem danach gelingt, sie sich vorzustellen, nachdem man sie erlitten hat. Und das gängigste Mittel der Leute dafür ist natürlich, sie zu erzählen. Na ja. Nicht, daß ich glaube, es könnte oder sollte alles erzählt werden, beileibe nicht. Aber es ist auch nicht zulässig, die Welt zu sehr zu verfälschen und Idioten und Einfaltspinsel auf sie loszulassen, denen man niemals Widerstände entgegengesetzt noch den geringsten Schrecken erlaubt hat. Ich habe mein Leben lang abzuwägen gesucht, was sich erzählen läßt, bevor ich etwas erzählte. Wem, wie und wo. Man muß bedenken, in welcher Phase oder welchem Moment seines Lebens sich der Zuhörer befindet, und sich bewußt sein, daß er das, was man ihm erzählt, fortan für immer wissen wird. Er wird es in sein Wissen aufnehmen, wie ich dieses konkrete Massaker aufgenommen habe, von dem ich in einer Straßenbahn erfuhr, und dabei war es eines von vielen. Aber ich bin dieses Wissen nicht losgeworden, wie du siehst, so wie ich auch nie eine andere Erzählung aus dem Krieg losgeworden bin, die ich zum Beispiel damals eurer Mutter nicht erzählt habe, siehst du, obwohl sie sich über nichts mehr wunderte und ich an dem Tag, da ich es gehört hatte, ziemlich aufgewühlt nach Hause kam. Doch wozu, dachte ich, wozu sie mit noch etwas ängstigen, jetzt, da der Krieg zu Ende war, ich werde es schon überwinden, ich werde es schon allein vergessen, ohne die Last zu teilen oder an sie weiterzugeben. Und ich habe es allmählich überwunden, weil man fast alles überwindet. Aber ich habe es nicht vergessen, das hieße zu viel erwarten, wie konnte ich. Das Geschenk hatte mir ein bekannter Schriftsteller und Angehöriger der Falange gemacht, der später aufhörte, letzteres zu sein, wie fast alle, und das in den letzten Jahren Francos, von der Zeit nach dessen Tod ganz zu schweigen, er war noch kaltblütig genug, sich als altgedienter Linker aufzuführen, stell dir das mal vor, und die Leute haben das geschluckt. Leute, die nicht ignorant waren, Leute von der Presse und aus der Politik. Und so wurde er immer gefeiert, unter beiden Farben, mit der für Spanien typischen moralischen Oberflächlichkeit.«
Er hielt einen Augenblick inne, aber dieses Mal erinnerte er sich nicht mit besonderer Intensität oder Lebhaftigkeit, sondern dachte nach oder zögerte oder biß sich gar auf die Zunge. Er hatte sich gebremst.
»Ich kann es mir nicht vorstellen«, beeilte ich mich zu sagen, »wenn ich nicht weiß, um wen es geht, und du mir die Geschichte nicht erzählst. Was war das für eine Erzählung? Wer war das?«
»Du hast mir gerade vorgeworfen, daß ich dir die Sache mit der Straßenbahn erzählt habe«, antwortete er, und ich meinte, ein Spur von Kränkung an ihm zu bemerken. »Ich weiß nicht, ob ich weiterreden soll.« Und es klang, als würde er mich um Erlaubnis bitten. Es klang seltsam.
»Aber woher denn. Das war kein Vorwurf, wie absurd. Das wäre, als würde man den Historikern vorwerfen, daß sie schreiben, was sie herausfinden oder aus erster Hand kennen. Wir erweitern unser ganzes Leben lang den Katalog der Greuel, die stattgefunden haben, ständig werden neue entdeckt, kommen zum Vorschein. Daß ich es von dir höre, kann nicht die gleiche Wirkung auf mich haben wie auf
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