Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)
anderen – da ist die Fähigkeit endlos, grenzenlos –, sondern vor sich selbst. Sich zu überzeugen, daß die Dinge anders waren, als sie waren, daß sie nicht getan haben, was sie sehr wohl getan haben, oder daß nicht stattgefunden hat, was sehr wohl stattgefunden hat, noch dazu mit ihrer unerläßlichen Beteiligung. Wir sind in unserer Mehrheit Meister in der Kunst, unsere Biographien auszuschmücken oder zu glätten, es ist wirklich erstaunlich, wie einfach es ist, Gedanken zu verbannen und Erinnerungen zu begraben und die schäbige oder kriminelle Vergangenheit wie einen bloßen Traum zu sehen, dessen drastische Wirklichkeit wir im Laufe des Tages, das heißt im Fortgang des Lebens, abschütteln. Aber jedesmal, wenn ich an der Ecke Alcalá und Velázquez vorbeikomme, kann ich nach so vielen Jahren nicht umhin, nach oben zu sehen, ein vierter Stock, nach der Wohnung, auf die die Frau an einem Morgen im Jahre 1936 von der Straßenbahn aus mit dem Finger gezeigt hatte, und mich an dieses kleine tote Kind zu erinnern, obwohl es für mich weder Gesicht noch Namen besitzt und ich von ihm nie mehr gewußt habe als ein paar unheimliche Sätze, die der Zufall mir zu Gehör gebracht hatte.«
M ein Vater verstummte erneut, und jetzt hatte ich etwas zu sagen während seiner Pause. Das Blau seiner Augen wirkte tiefer. Ich sagte, was ich schon seit einigen Augenblicken bereits dachte:
»Es kann sein, daß von jetzt an auch ich diese Häuser anschaue, obwohl ich nicht genau weiß, um welches es sich handelt, wenn ich an dieser Ecke vorbeikomme. Jetzt, wo ich die Erzählung von dir gehört habe.«
Er fuhr mit der Hand durch die Luft, oder eher mit drei Fingern, Zeigefinger, Mittelfinger und Daumen, denen er zur Tarnung mit leichter Verspätung die anderen folgen ließ, als hätte ich eine sehr alte, längst debattierte und entschiedene Frage berührt. Fast als würde er sie fortwischen oder verwerfen, weil sie unlösbar war.
»Ja, ich weiß, vielleicht sollte man niemals etwas erzählen«, antwortete er. »Ich meine, nichts Schlimmes. Als ihr geboren wurdet, haben eure Mutter und ich uns die Frage gestellt: Wie würden wir euch erzählen, was hier, wo ihr lebtet, erst fünfzehn, zwanzig Jahre vor eurer Geburt oder länger im Fall deiner Schwester geschehen war? Uns schien, das konnte man Kindern nicht erzählen und schon gar nicht erklären, das konnten wir ja nicht einmal uns selbst, und dabei hatten wir es von Anfang bis Ende erlebt. Für unsere Fähigkeit zu vergessen war es nicht viel Zeit, und außerdem blieb alles lange lebendig, daß es so war, dafür sorgte schon das Regime. Es kam zu keiner geistigen Reinigung, niemals, es wurde auch nichts getan, um die Gemüter zu beruhigen, sein Mangel an Großmut war konstant und, wie alles übrige, totalitär, denn es herrschte in allen Ordnungen und allen Bereichen des Lebens, selbst noch im Unantastbaren. Ich habe die Entscheidung ihr, eurer Mutter, überlassen, sie verbrachte mehr Zeit mit euch; ihr habt immer mehr ihr als mir gehört, und deshalb tut es mir so leid, daß sie euch am Ende weniger gekannt hat als ich, weniger Jahre und nur in jugendlichem Alter, wie soll ich sagen, unfertiger als ihr es jetzt seid, obwohl ihr es noch immer ziemlich seid und du am allermeisten, das hat seinen Grund. Und daß sie eure Kinder nicht erleben kann. Mir erschien ihre Einstellung immer richtig. Sie war der Meinung, ihr solltet euch nie bedroht fühlen, euch nie Sorgen um euch machen, nie fürchten, daß euch etwas Schreckliches zustoßen könnte. Nie unsicher im täglichen Leben und auf eurem Weg. Ihr solltet euch insgesamt beschützt und in Sicherheit fühlen. Aber sie hielt es auch nicht für klug oder ratsam, daß ihr nicht wußtet, wie die Welt ist, wie sie sein kann oder was sie gewesen ist. Sie dachte, wenn ihr es nach und nach erfahren würdet, ohne Schauergeschichten und häßliche, unnötige Einzelheiten und ohne euch deshalb direkt in Gefahr zu fühlen, dann würdet ihr gewarnt und besser vorbereitet und eher gerüstet sein. Und es hing natürlich auch von euren Fragen ab. Sie hatte immer eine große Abneigung dagegen, euch zu belügen. Ich meine, ganz und gar, euch zu sagen, etwas sei nicht wahr, wenn es das doch war. Sie konnte die Wahrheit etwas abmildern und verpacken, aber sie euch vorenthalten, das konnte sie nicht. Ich weiß nicht, was jetzt ist, es gibt diese Tendenz, die Kinder in eine Luftblase aus verdummendem Glück und falscher Ruhe einzuschließen, sie
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