Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)
jeweilige Gesprächspartner den anderen später seine Worte übermitteln würde, »ihr habt das Glück gehabt, wenig wirkliche Gewalt zu erleben, daß sie in eurem täglichen Leben nicht vorhanden war, daß sie, wenn ihr sie mal erfahren habt, die Ausnahme war und nicht allzu schlimm, ein paar Prügel bei einer Demonstration oder ein Handgemenge in einer Kneipe, das man immer zu verhindern sucht und nicht einfach laufen läßt und das gewöhnlich nicht ausartet; vielleicht ein Überfall, ein gewalttätiger Raub. Zum Glück, und hoffentlich wird das für euch immer so sein, seid ihr nicht in Situationen gewesen, in denen einem nichts anderes übrig blieb, als mit ihr zu rechnen. Ich meine, daß sie sicher war, daß man wußte, daß sie irgendwann am Tag, und wenn nicht, in der Nacht kommen würde, und wenn es im Lauf eines ganzen Tages keine gab oder sie einem nicht direkt begegnete und man sie nur vom Hörensagen mitbekam – dem entging allerdings niemand, den Erzählungen und Gerüchten –, konnte man die Gewißheit haben, daß dies ein Geschenk war, das sich am nächsten Tag nicht wiederholen würde, denn eine derartige Häufung günstiger Zufälle war in der Wahrscheinlichkeitsrechnung nicht vorgesehen. Die Bedrohung war permanent, und die Wachsamkeit war es auch. Einmal wurde am Nachmittag mein Zimmer zerstört, eine Granate schlug ein, ein Volltreffer, ein Riesenloch in der Wand und das Innere verwüstet. Ich war draußen, ich war eine Weile zuvor dagewesen und wollte kurz darauf zurückkehren. Aber es hätte mich auch anderswo treffen können, auf der Straße oder in einer Straßenbahn, in einem Café, in den Geschäften, während ich vor dem Hauseingang auf eure Mutter wartete, im Funkhaus oder in einem Kino. Während der ersten Monate des Krieges sah man überall Verhaftungen, bisweilen mit Gerangel und Kolbenhieben, oder Razzien in den Häusern, sie holten ganze Familien und ihre etwaigen Besucher heraus und nahmen sie mit, man konnte selbst dort, wo man es am wenigsten erwartet hätte, in eine Verfolgung oder eine Schießerei geraten, und nachts hörte man die Salven der Erschießungen in den Außenbezirken, die sogenannten paseos , oder einzelne, kurze Schüsse von den pacos auf den Terrassen, in der Abenddämmerung oder ganz früh am Morgen, vor allem in den ersten Tagen (das waren die Heckenschützen, du weißt schon), oder wenn sie im Morgengrauen zu hören waren, dann waren es Schüsse aus nächster Nähe in die Schläfe oder ins Genick neben den Straßengräben oder nicht immer, manchmal konnte man es sogar sehen, wenn man großes Pech hatte, man sah, wie einem Knienden der Kopf platzte, das ist nicht metaphorisch, man sah Hirnmasse heraustreten. Am besten, man ging weiter, schaute nicht, entfernte sich rasch, man konnte nichts tun, nachdem man es gesehen hatte, und wenn man es nur aus den Augenwinkeln sah, dann konnte man sich glücklich schätzen. Es gab Henker, die in der Abenddämmerung begannen, sie waren zu faul, sich weiter zu entfernen, wenn sie kein Auto zur Verfügung hatten oder knapp an Treibstoff waren, also suchten sie sich eine wenig begangene Sackgasse und liquidierten dort, sie waren ungeduldig und außerstande zu warten, bis die Stadt halb im Schlaf lag, denn ganz schlief sie niemals mehr in drei langen Jahren der Belagerung, des Hungers und der Kälte, auch nicht danach, nach 39 stürmte Francos Polizei mitten in der Nacht die Häuser, in denselben Jahren, in denen die Gestapo es im übrigen Europa tat, sie waren leibliche Vettern. Sie waren besser organisiert und führten viele Erschießungen direkt auf den Friedhöfen durch, nach dem Schließen, oder sie schlossen sie extra dafür; also hörte man in manchen Gegenden weiter Salven mitten in der Nacht, eine ziemlich lange Zeit, in der längst der Frieden verkündet war. Aber es herrschte noch kein großer Frieden oder nur für die in diesem Lager, die schliefen allerdings ruhig. Ich werde mir nie erklären können, wie das möglich war nach diesem ganzen Massaker. Und nicht nur das. Es gab ein paar Anständige, aber die meisten liefen mit stolzgeschwellter Brust umher.«
Ich erinnere mich, daß mein Vater dann eine Pause gemacht hatte, oder daß es eine Pause war, wußte ich später. Er war verstummt, ich fragte mich, ob er vielleicht vergessen hatte, worüber er mit mir sprechen oder was er mir sagen wollte, das glaubte ich nicht, auch er pflegte den Faden wieder aufzunehmen, oder es genügte, wenn ich ein wenig an ihm zog,
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