Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)
zu gewähren; wir kennen die Urteile nicht, die unsere Ehefrauen und unsere Ehemänner, unsere Eltern und unsere Kinder, unsere besten Freunde sich weiter im stillen bilden und die zwangsläufig veränderlich sind: wir betrachten sie als verlässlich und ungefährdet für unbegrenzte Zeit, als würden sie immer so bleiben, wo doch kein Zweifel besteht, daß ihre Gesichter sich verändern und die unseren für sie, daß wir sie lieben und am Ende hassen können, daß sie bedingungslos auf unserer Seite stehen können, bis sie sich eines Tages gegen uns wenden und nur noch darauf aus sind, uns zu ruinieren, ins Verderben zu stürzen, zugrunde zu richten und uns leiden zu sehen. Und sogar, uns von der Erde und aus der Zeit zu vertreiben, das heißt, uns zu vernichten.)
Was das dritte betraf, daß ich keine Gefahr darstellte, man mich aber sehr wohl fürchten müsse, und daß ich außerdem nicht verzieh (obwohl das nur als Annahme ausgedrückt wurde), so erschien es mir als noch übertriebener. Natürlich bin ich nicht sicher, daß jemand weiß, ob er gefürchtet werden muß oder nicht, es sei denn, er lege es bewußt darauf an, arbeite darauf hin, um fremde Willen zu beherrschen und Normen zu schaffen oder den Ton anzugeben als Teil eines Plans oder einer Strategie oder als eine ziemlich verbreitete Art und Weise, durchs Leben zu gehen, wenn ich es recht bedenke. Davon abgesehen, wie soll ich sagen, nimmt man sich nicht als furchteinflößend wahr, man fürchtet sich ja niemals vor sich selbst. Und von denen, die alles daransetzen, furchteinflößend zu sein und gefürchtet zu werden, gelingt es in Wirklichkeit nur wenigen. Tupra und Wheeler, jeder auf seine Weise, waren zwei gute Beispiele für dieses Gelingen; und wenn es Zusammenhänge zwischen beiden gab und wenn es sie wiederum zwischen jedem von ihnen und dem toten Meister und Freund oder Bruder gab; wenn es zwischen den dreien Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten im Charakter gab oder besser gesagt in der Fähigkeit, in jener gemeinsamen Gabe, an der auch ich teilhatte ihrem scharfsinnigen Urteil zufolge, dann war es nicht unmöglich, daß auch ich, wenngleich ohne es zu wollen, in der Tat gefürchtet werden müßte und daß diese Schrift recht hatte. Ich war Tupra gegenüber schon bei einer Gelegenheit nicht aufrichtig gewesen, bei der Deutung von Incompara: ich war der Bitte von Pérez Nuix gefolgt und hatte geschwiegen oder ausgelassen oder gelogen. Und vielleicht machte allein das mich furchteinflößend oder, was das gleiche ist, nicht vertrauenswürdig, oder, was dem sehr nahe kommt, zum Verräter. (Bitten, Bitten ist der häufigste Fluch nach dem Erzählen; wollte Gott, daß man uns nie um etwas bittet und uns nur Befehle erteilt.)
»Das glaube ich wohl«, hätte ich Tupra wieder geantwortet, in bezug auf Reresby. »Obwohl er am Anfang nicht einschüchtert und einen auch nicht veranlaßt, auf der Hut zu sein, sondern eher dazu einlädt, den Schild zu senken und den Helm abzunehmen, um sich besser von ihm einnehmen zu lassen, von seiner warmen, betörenden Aufmerksamkeit, von seinem Auge, das die Vergangenheit sondiert und den Betrachteten am Ende erhebt; obwohl er zunächst freundlich, heiter, für einen Inselbewohner offen sympathisch wirkt mit seiner weichen, naiven Eitelkeit, die nicht nur nicht störend ist, sondern bewirkt, daß man ihm mit leichter Ironie begegnet und auch mit instinktiver, keimender Zuneigung, stellt er doch eine grenzenlose Gefahr dar und muß man ihn grenzenlos fürchten, das glaube ich wohl. Bestimmt ist er ein Mensch, der es sehr schlecht erträgt, wenn man nicht tut, was er für richtig, erforderlich, angebracht oder gut hält. Vor allem, wenn es durchführbar ist.«
Und Tupra hätte mir dann die Frage gestellt, die am schwersten zu beantworten war:
»Glaubst du, er hätte dich töten können, Jack, in dieser Krüppeltoilette, wenn du ihm in den Arm gefallen wärst, wenn du versucht hättest, ihn daran zu hindern, den Hanswurst zu enthaupten? Du glaubtest doch, daß er ihn töten würde, und das erschien dir schlecht, sehr schlecht. Obwohl du den Typen nicht ausstehen konntest, warst du entsetzt. Warum hast du ihn nicht zurückgehalten? Weil du dachtest, daß er fähig wäre, statt einen zwei zu töten, und daß ihr alle noch mehr verlieren würdet? Zwei Tote statt eines einzigen, und einer davon du? Ich meine, hältst du ihn für fähig, dich zu töten, der du kein Freund bist, aber doch jemand, der ihm anvertraut ist, ein
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