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Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)

Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)

Titel: Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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wer sie waren (oder aber es waren Archetypen), und der einen Empfänger hatte: »Es kann sein, daß ihm ziemlich egal ist, was anderen geschieht …«, hieß es in dem auf englisch geschriebenen Text, der sich mit mir befaßte. »Die Dinge geschehen, und er registriert sie, ohne eine bestimmte Absicht, ohne sich in den meisten Fällen betroffen oder gar involviert zu fühlen. Vielleicht nimmt er deshalb so vieles wahr. So vieles entgeht ihm nicht, daß es fast angst macht, sich vorzustellen, was er weiß, wieviel er sieht und wieviel er weiß. Über mich, über dich, über sie. Er weiß mehr über uns als wir selbst.« Und weiter unten fügte er hinzu: »Er macht keinen Gebrauch von seinem Wissen, das ist sehr merkwürdig. Aber er hat es. Und wenn er eines Tages doch davon Gebrauch machen sollte, dann müßte man ihn fürchten. Ich glaube, daß er nicht verzeiht.« Und zum Schluß bestand er noch ein wenig auf diesem Punkt: »Er weiß, daß er sich nicht versteht und es nie tun wird. Und deshalb versucht er es gar nicht. Ich glaube, er stellt keine Gefahr dar. Aber fürchten muß man ihn wohl.«
    Das erste konnte stimmen, daß es mir keine Herzensangelegenheit war, was um mich herum geschah (vielleicht war ich deshalb Reresby nicht in den Arm mit dem hocherhobenen Landsknechtsschwert gefallen). Das zweite war übertrieben aus meiner Sicht: auch wenn ich viel zu wissen glaubte, wußte ich nicht so viel, der Unterschied zwischen diesen beiden Dingen, die ständig verwechselt werden, zwischen dem geglaubten und dem wirklichen Wissen, ist immer enorm. Und wer war »ich«, wer war »du«, wer war »sie« in diesem Bericht. »Ich« war Tupra? »Du« war Pérez Nuix oder war sie »sie«? Plötzlich kam mir der Gedanke, daß »ich«, daß derjenige, der da schrieb und sinnierte und mich beobachtet hatte, mich längere Zeit und gründlicher kennen mußte als meine Kollegen (obwohl ich bei diesem Gedanken kurz vergaß, welcher Tätigkeit sie sich oder wir uns mit großer Willkür und Kühnheit widmeten). War es Wheeler, war es Frau Berry, war es kein anderer als Toby Rylands, der ihn vor Jahren verfaßt oder diktiert und abgelegt hatte, nur für alle Fälle, als ich noch in Oxford lebte und nicht einmal verheiratet war und sich nicht die Möglichkeit abzeichnete, daß ich nach der Erfüllung meines Vertrages mit der Universität nach England zurückkehren würde? Soviel Unnützes häuften sie an? Konnte er so weit vorgegriffen haben? Und war dann »du« sein Bruder, war es Wheeler, mit dem ich kaum Umgang gehabt hatte während meines Aufenthalts? Und wer konnte »sie« sein, wenn nicht Clare Bayes, die in jenen Zeiten meine einzige »sie« gewesen war? »Er weiß mehr über uns als wir selbst.« Vielleicht bezog sich das auf die Kongregation, wie sich die Gesamtheit der dons oder Universitätsprofessoren in Anlehnung an die starke klerikale Tradition des Ortes selbst bezeichnet, und die beiden Brüder waren Mitglieder. Peter hatte mir gesagt, als erster habe Toby ihm von mir und meiner vermeintlichen Gabe erzählt: »Tatsächlich haben wir uns deshalb kennengelernt, er hatte meine Neugier geweckt. Daß du vielleicht wie wir sein könntest …« Auch hier gab es ein »wir«, und das war keines, das sich auf Oxford bezog, sondern spielte auf das an, was beide waren oder gewesen waren, Menschendeuter oder Lebensübersetzer. »Das hatte er vorausgeschickt und mir dann später bei irgendeiner Gelegenheit bestätigt, als das Gespräch auf die alte Gruppe kam.« Das waren seine Worte gewesen, während ich frühstückte, und kurz darauf war er noch deutlicher geworden: »Toby hat mir gesagt, daß er immer deine besondere Gabe bewunderte und zugleich fürchtete, die charakteristischen und sogar grundlegenden äußeren und inneren Wesenszüge deiner Freunde und Bekannten zu erfassen, die ihnen selbst oft unbekannt, verborgen waren …«
    Also war alles möglich, alles war möglich, sogar, daß es die Stimme Rylands’ aus dem Jenseits war, der Wheeler über mich informierte oder Tupra höchstpersönlich, schließlich und endlich sein einstiger Schüler in was auch immer, das durfte ich nicht vergessen. (Man weiß nie, wie sehr und in welcher Weise man von den Menschen seiner Umgebung beobachtet wird, von den Vertrautesten und Treuesten, die vor langer Zeit vorgaben, auf die Objektivität zu verzichten und einen für selbstverständlich zu halten oder für bekannt oder für unverletzlich oder für unverhandelbar, oder einem jede Gnade

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