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Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)

Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)

Titel: Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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Angst, Jack. Die Angst. Ich habe dir einmal gesagt, daß sie die größte Kraft ist, die existiert, wenn es einem gelingt, sich ihr anzupassen, sich in ihr einzurichten, in gutem Einvernehmen mit ihr zu leben. Dann kann man Nutzen aus ihr ziehen und sie zu seinem Vorteil einsetzen und Großtaten vollbringen wie nicht einmal im kühnsten Traum, mit großem Mut kämpfen oder widerstehen und sogar jemanden besiegen, der stärker ist. Mütter in vorderster Linie, mit ihren Kindern in der Nähe, wären die besten Krieger in den Schlachten, das habe ich euch gesagt. Deshalb muß man sorgsam die Angst abwägen, die man einflößt, denn sie kann sich gegen einen wenden. Die Angst, die man einflößt, muß so furchtbar sein, daß der andere keine Möglichkeit hat, sie sich setzen zu lassen, in sich aufzunehmen, sich ihr anzupassen oder sie zuzulassen, es darf zu keiner Stabilisierung oder Atempause kommen, die erlauben, auch nur eine Sekunde mit ihr zu leben, mit ihr fertig zu werden und ihr Raum zu geben und auf diese Weise einen Augenblick lang in der erschöpfenden Anstrengung nachzulassen, sie zu vertreiben. Das ist es, was lähmt und abnutzt und die ganze Energie aufzehrt, die Verständnislosigkeit, die Ungläubigkeit, die Verleugnung, der Kampf. Und wenn der Kampf (der vergeblich ist) nicht mehr darum geht, dann kehren die Kräfte verstärkt zurück. Niemand denkt, daß er sterben wird, nicht einmal in der aussichtslosesten Lage, nicht einmal im schwärzesten Augenblick, nicht einmal, wenn es unmittelbar, unleugbar bevorsteht. Also darf die Angst, die man einflößt oder einjagt, nicht bekannt, fast nicht vorstellbar sein. Wenn es eine konventionelle, vorhersehbare oder, wie soll ich sagen, triviale Angst ist, dann wird derjenige, der sie fühlt, imstande sein, sie zu verstehen, Zeit zu gewinnen und damit Gewöhnung, und dann vielleicht fähig sein, sie zu bekämpfen. Sie wird nicht vergehen, er wird sie nicht verlieren, darum geht es nicht: diese Angst wird weiter wirken, ihn bedrängen und ihn quälen, aber er wird sie teilweise akzeptieren, wird sich in die Situation finden und ein wenig denken können; und man denkt rasend schnell unter ihrer Herrschaft, die Vorstellungskraft schärft sich, Lösungen tauchen auf, unrealisierbar oder nicht, zum Scheitern verurteilt oder nicht, aber sie werden jedenfalls erahnt, der Verstand ist hellwach und mit ihm der ganze Rest. Man springt über eine Mauer, die in jedem anderen Augenblick unüberwindlich erschienen wäre, oder man rennt stundenlang auf der Flucht davon, obwohl man zuvor gesagt hätte, man habe nicht einmal Luft genug, um im Laufschritt den anfahrenden Autobus zu erreichen. Oder man beginnt zu sprechen, Interesse zu wecken, zu erzählen und zu argumentieren, denjenigen zu unterhalten, der einen bedroht, um zu sehen, ob man ihn von seinem Vorhaben abbringen kann, obwohl einem sein ganzes Leben jede Eloquenz abging und man nicht einmal imstande ist, einen Kellner in einem Lokal auf sich aufmerksam zu machen. Leute mit Angst verwandeln sich, wenn man ihnen Zeit dazu gibt, daß in ihnen nicht mehr der bloße Instinkt vorherrscht, sondern der rasche Geist des Überlebens.«
    Und Tupra verstummte, er war zweifellos nicht mehr Reresby, er hielt inne in seiner Rede, er mußte die Angst reichlich studiert haben, reichlich gekannt und reichlich erlebt, und das lag bestimmt an dem vielen Gebrauch, den er in seinem Leben von ihr gemacht hatte, hier und dort, wer weiß wo, bei seinen Missionen und Streifzügen oder an Ort und Stelle, überall gibt es Aufständische, vor allem, wenn man im Dienst eines alten, längst zerfallenen und überdies im Rückzug befindlichen Imperiums steht, das nur noch ausgesprochen zähe Kommandos zurückläßt, um die Lage zu peilen und die Macht zu übergeben und nicht ganz unehrenhafte Abzüge zu organisieren, die künftigen Geschäfte und die späten Abzüge. Mir ging der unheimliche Gedanke durch den Kopf, daß er gefoltert und dabei soviel Panik gesehen haben konnte wie Orlow und Bielow und Contreras seinerzeit im Fall von Andrés Nin (der erste in Wirklichkeit Nikolsky und der dritte in Wirklichkeit Vidali und später Sormenti in Amerika: auch Tupra hatte seine Decknamen), in einem Keller oder einer Kaserne oder einem Haus oder einem Gefängnis oder einem Hotel in Alcalá de Henares, in der russischen Kolonie, wo Cervantes das Licht der Welt erblickt hatte; ein unheilvoller, nicht näher benannter Informant hatte angedeutet, sie hätten ihm

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