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Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)

Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)

Titel: Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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Nacktheit; nein, das glaubte ich nicht, das letztere.) »Sieh mal, in all den Jahren, die ich hier bin, habe ich niemanden erlebt, der nicht eine gewöhnliche Privatperson gewesen wäre.« Dieses »hier« mußte ich als »dabei« verstehen; soviel ich wußte, hatte sie mehr oder weniger ihr ganzes Leben im Land ihrer Mutter verbracht. »Nicht einmal bei der Armee, wo man meist Befehle befolgen muß und selten Entscheidungen treffen darf, ein Räderwerk, sagt man. Aber sie ist keines, weder sie noch sonst etwas. Es ist egal, welchen Posten die Leute einnehmen oder wen sie repräsentieren, ob sie große Verantwortung tragen oder nur Befehlsempfänger sind, ob sie gewählt oder willkürlich ernannt wurden, woher ihre geringe oder große Autorität kommt, ob ihre staatsbürgerliche Gesinnung stark oder nicht vorhanden ist, ihre Loyalität ist egal oder ihre Käuflichkeit, ihre Neigung, ihr Mäntelchen nach dem Wind zu hängen. Es ist egal, daß das ganze Geld, das durch ihre Hände geht, der Staatskasse gehört und ihnen kein verdammter Penny. Es ist egal, sie werden mit den unglaublichsten Summen umgehen, als wären es eigene, von den geringen ganz zu schweigen. Ich will damit nicht sagen, daß sie sie behalten, nicht alle oder nicht zwangsläufig; sondern daß sie sie nach ihrem Belieben und zu ihrem Nutzen verteilen und erst danach die Gründe für diese Verteilung suchen werden, niemals vorher. Weißt du? Es gibt immer Gründe a posteriori , natürlich weißt du das, für jede Handlung, selbst die willkürlichste oder infamste, sie finden sich immer, bisweilen sind sie lächerlich und unglaubwürdig, stehen auf wackligen Füßen und täuschen niemanden oder nur den, der sie erfindet. Aber in jedem Fall findet man sie. Und andere Male sind sie gut und überzeugend, einwandfrei, tatsächlich ist es leichter, sie für vollendete Tatsachen als für Pläne und Absichten, für Vorhaben, Entschlüsse zu finden. Das bereits Geschehene ist ein sehr starker, solider Ausgangspunkt: es ist irreversibel, und das ist bereits eine Richtschnur, ein Wegweiser. Etwas, woran man sich halten muß. Mehr noch: auf das man sich beschränken muß, denn es bindet und verpflichtet, und damit ist die halbe Arbeit schon getan. Es ist sehr viel weniger mühsam, das bereits Geschehene mit Gründen zu erklären (oder, was das gleiche ist, sie herauszufinden; oder, es macht keinen Unterschied, sie ihm zu verleihen), als im voraus zu rechtfertigen, was geschehen soll, was man anstreben wird. Jeder, der in der Politik ist, weiß das nur zu gut, auch in der Diplomatie. Genau wie die wet gamblers oder die Kriminellen, wenn sie beschließen, jemanden zu beseitigen, und ihn beseitigen und sich danach schon noch mit den Vorüberlegungen befassen und das Für und Wider abwägen werden, indem sie es als Folge angehen; doch der Beseitigte ist beseitigt, siehst du, und daran ändert niemand was, und fast immer gibt es einen Nutzen oder mehr Nutzen als Schaden. Und das wissen auch alle, die einen Posten innehaben, selbst der letzte Polizist im letzten Nest im abgelegensten shire .« ›Das Wort Grafschaft ist ihr nicht in unserer Sprache über die Lippen gekommen‹, dachte ich, ›in der es heute wenig gebräuchlich ist.‹ Denn zweifellos war es auch ihre. Und sie hatte ebenfalls auf englisch wet gamblers gesagt, diesen Ausdruck hatte ich nie gehört und verstand ihn auch nicht, vielleicht ohne Äquivalent im Spanischen, da sie nicht einmal versucht hatte, es zu finden: wörtlich ›feuchte Spieler‹; oder ›nasse Glücksspieler‹, mir kam sogleich ein anachronistisches Bild von Westenträgern in Mississippi in den Sinn. »Und alle sind Privatpersonen, das versichere ich dir, unter ihren Uniformen und außerhalb ihrer Büros, das heißt, auch drinnen, wenn sie allein sind.« Ich dachte an Rosa Klebb, die erbarmungslose Mörderin von SMERSH in Liebesgrüße aus Moskau , die diesem Roman zufolge Andrés Nin umgebracht haben konnte; an ihre Beschreibung, die ich in jener Nacht unvorhergesehenen, fieberhaften Forschens bei Wheeler, am ruhigen Fluß der Kontinuität, gelesen hatte. ›Am Morgen mußte es sie Mühe kosten, sich von ihrem lauen, besudelten Bett loszureißen. Ihre privaten Gepflogenheiten waren bestimmt unsauber, sogar schmutzig. Es konnte nicht angenehm sein, einen Blick auf die intime Seite ihres Lebens zu werfen, wenn sie sich entspannte, nicht mehr in Uniform …‹ Und es war noch Zeit dafür, daß mir folgender Gedanke durch den Kopf ging:

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