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Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)

Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)

Titel: Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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wie man später herausfand, der schneller oder gnadenloser oder geschickter war mit dem Messer an einem 30. Mai vor vierhundert Jahren, in Deptford, nahe der Themse, wie der Fluß Isis überall und jederzeit heißt, außer wenn er durch Oxford fließt, diese ausländische Stadt, die vor einer Ewigkeit meine zu sein schien oder war, und wo er so genannt wird, Isis, also ist er es auch in meiner Erinnerung, Isis. Wie recht er hatte, der große verräterische und freigebige Dichter, der keiner Rauferei auswich und im Ausland gereist war und aus Erfahrung kannte, wovon die Rede war, als er irgendeiner Gestalt seiner Tragödien die Worte in den Mund legte: »Thou hast committed fornication: but that was in another country, and besides, the wench ist dead.« Oder, dasselbe (und hier besteht kein Zweifel, daß country nicht »Vaterland« heißt): »Du hast Unzucht begangen: aber das war in einem anderen Land, und außerdem ist das Mädchen tot.«
    O ja, was in einem anderen Land geschehen ist, verblaßt immer und verschwimmt, sobald man in das eigene zurückkehrt, wenn nicht schon im Augenblick des Geschehens selbst, so als würde es aufgrund unserer gesteigerten Vergänglichkeit an Schwere und Umriß verlieren oder sei nicht ganz geschehen oder hereingebrochen über die Welt mit seinem Gewicht oder nicht Gestalt geworden oder nur in den wirren Nebelwolken des Traums, die man dann so leicht wieder verlassen und abtun kann. (›O nein, ich wollte nicht, ich habe nichts damit zu tun.‹) Und wenn außerdem die Beteiligten gestorben sind, dann ist das Geschehen noch leichter und weniger scharf, gespenstischer und ferner, fast so wie das, was man in Romanen gelesen oder in Filmen gesehen hat, und bisweilen vermag man es nicht ganz davon zu unterscheiden oder von dem, was man in den Alpträumen erlebt hat, die bedrücken, oder unter dem Einfluß von Schmerz und Fieber, die zu Delirien führen. Es sei denn, man habe diese Toten getötet oder sei der indirekte oder direkte Verursacher ihrer Vertreibung aus der Welt und ihres endgültigen Schweigens, gewollt oder ungewollt, obwohl ich nicht weiß, ob der so häufig benutzte Ausdruck »indirekter Verursacher« den geringsten Sinn hat oder nur ein akzeptierter Widerspruch in sich ist.
    Aber dann ist da noch, was Wheeler über die Träume gesagt hatte, und was gegen all das sprechen würde: das Lachen und die Stimmen, die wir in ihnen hören, genauso intensiv und lebendig wie wir sie im Wachsein hören oder oft stärker, denn sie dauern oder wiederholen sich und können eine ganze Nacht anhalten, ohne an Präsenz zu verlieren oder zu ermüden; ohne Rivalen im Wachzustand und nunmehr einzig, wenn sie außerdem zu Menschen gehören, die gestorben sind und nur in unserem Traum wieder mit uns sprechen und ihr Gesicht und ihren Körper zurückgewinnen, wie die zweite Frau des blinden, verwitweten Dichters John Milton; dieses Lachen und diese Stimmen und ihre neuen, niemals zuvor, niemals im Leben ausgesprochenen Worte, »es besteht kein Zweifel«, hatte Wheeler gesagt, »daß sie in uns sind und nicht draußen an irgendeinem Ort … Sie sind in unseren Träumen, diese Toten; wir sind es, die sie träumen, unser schlafendes Bewußtsein läßt sie auftreten, und niemand sonst kann sie hören.« Und er hatte noch hinzugefügt: »Die Sache gleicht eher einer Verkörperung, einer Ersetzung, einer Personifikation von unserer Seite als vermeintlichen Besuchen oder Warnungen aus dem Jenseits.« (›Sie gleicht einer ungehinderten Aneignung ohne jedes Risiko‹, dachte ich später, ›nachdem diese Toten ihren Platz freigemacht und das Feld geräumt haben.‹) Wenn er also recht hätte, dachte ich in der idiotisch schicken Diskothek, während geschah, was sehr bald geschah. Wenn er recht hätte, dann ist der Wille oder sein Fehlen kaum weiter von Bedeutung, nicht, ob etwas ungewollt oder gewollt verursacht wird, auch nicht das Geschehene und das nicht Geschehene, das nur Gedachte oder nur Befürchtete oder Erstrebte, die bloßen Grübeleien und die bloßen Sehnsüchte, die wir uns um so mehr erlauben, je unmöglicher sie sind, mit der Ruhe, die uns eben ihre sichere Unmöglichkeit verleiht; es ist egal, ob sich alles auf Furcht oder Vermutung beschränkt, auf mißlungene oder fruchtlose oder niemals in Erfüllung gegangene Anstiftungen oder Überzeugungsversuche, auf gescheiterte Worte Jagos – wer probiert sie nicht oder wird sie nicht probieren in seinem Mund im Lauf eines ganzen Lebens, auf

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