Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)
nicht einmal uns selbst (zumindest keine detaillierte, niemals eine vollständige). Man fühlt sich bis zu einem gewissen Grad nicht verantwortlich für das, was man tut oder erlebt, so als gehörte all das einer provisorischen, parallelen, fremden oder geliehenen, fiktiven oder fast geträumten Existenz an – oder vielleicht ist sie theoretisch wie mein ganzes Leben, dem nicht unterzeichneten Bericht der alten Kartei zufolge, der mich betraf; als könnte alles in den Bereich des rein Imaginären und niemals Geschehenen und natürlich des Unfreiwilligen verwiesen, alles in den Sack der Vorstellungen und der Vermutungen und der Hypothesen und sogar der bloßen wirren Träume geworfen werden, über die es im Lauf sämtlicher Jahrhunderte, die in die Erinnerung eingegangen sind, sei diese spekulativ oder historisch, erfunden oder wahr, einen ungewöhnlichen, fast permanenten und universellen Konsens gegeben hat: sie hängen nicht von der Absicht des Träumers ab, dieser ist nie verantwortlich für ihren Inhalt.
›Was soll ich machen, ich suche sie mir nicht aus, und außerdem kann ich sie nicht vermeiden‹, sagt man sich nach jedem trüben Traum, den der wache Mensch später als ungehörig oder unerlaubt empfindet und den er lieber nicht gehabt hätte oder an den er sich lieber nicht erinnern würde. ›Nein, ich wollte nicht, daß dieser anormale Wunsch oder diese grundlose Reue auftauchen‹, denkt man, ›diese Versuchung oder diese Panik, diese unbekannte Bedrohung oder dieser überraschende Fluch, diese Abneigung oder diese Sehnsucht, die jetzt jede Nacht wie Blei auf meiner Seele lasten, diese Widerwärtigkeit oder diese Gewalt, die ich selbst verursache, diese toten Gesichter mit ihrer endgültigen Gestalt, die einst mit mir paktierten, kein Morgen mehr zu haben (ja, das ist unser Pakt mit denen, die schweigen), und die jetzt kommen und mir furchteinflößende und unerwartete und vielleicht sogar für sie unpassende oder nun nicht mehr so unpassende Worte zuflüstern, während ich schlafe und jeden Schutz aufgegeben habe: ich habe meinen Schild und meine Lanze im Gras zurückgelassen.‹ Die Idee, die aus dem Traum aufgestiegen ist, wird oft aus ebendiesem Grund verworfen oder entkräftet, ihrer ungewissen, dunklen Herkunft wegen, ihres schemenhaften, nebulösen Ursprungs wegen, aber nicht immer verschwindet sie, wenn das Bewußtsein zurückkehrt, sondern dieses greift sie auf und nährt sie bisweilen, und so lebt das Bewußtsein auch mit dem zusammen, was nicht aus ihm stammt; empfängt es in seinem Schoß und läßt es wachsen darin und gibt ihm Gestalt und sogar Namen und nimmt es auf in seine kontrollierte Tagwelt, wenn auch auf einer niedrigeren Rangstufe, indem es ihm den Charakter der Verzeihlichkeit verleiht und es mit Paternalismus betrachtet, so als müßte jeder im Licht überlebende Traum zwangsläufig von dem ironischen Kommentar Sir Peter Wheelers begleitet werden, als er sich schließlich zurückzog, die Treppe hoch und nach links, am Samstagabend seines kalten Abendessens: »Was für ein Unsinn«, hatte er gesagt. Und hinzugefügt, wobei er in spöttischem Ton meine vorherigen Worte wiederholte: »Eine großartige Idee.« Aber bei aller Herablassung den Unsinnigkeiten gegenüber habe ich gelernt, nicht nur das zu fürchten, was durch den Kopf geht, sondern das, was der Kopf noch nicht weiß, weil ich fast immer gesehen habe, daß schon alles da war, irgendwo, bevor es in den Kopf kam oder durch ihn hindurchging. Ich habe daher nicht nur das fürchten gelernt, was man ausdenkt, die Idee, sondern das, was ihr voraufgeht oder vor ihr existiert.
Ähnlich wie die Trug- und Traumbilder empfindet und erlebt man diese in Klammern gesetzte Zeit der Abwesenheit und alles, was sie in sich birgt: unsere Heldentaten oder Verbrechen, sämtliche eigenen und fremden Handlungen; nicht nur solche, die wir begehen oder erleiden, sondern auch solche, denen wir beiwohnen oder die wir auslösen, gewollt oder ungewollt; in dieser Zeit ist niemals etwas allzu ernst, das glauben wir. Wie recht er hatte, der große Dramatiker und Falschmünzer, der spionierende, blasphemische Dichter Marlowe, von dem man wenig weiß bei seinem obskuren Tod, der gewaltsam war und legendär ist und viele Male mit unmöglicher Genauigkeit rekonstruiert, also eher vorgestellt wurde, mit Blick auf den schwarzen Rücken: er starb durch Messerstiche in einer Taverne vor seinem dreißigsten Lebensjahr, von Hand eines gewissen Ingram Frizer,
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