Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)
nicht er oder eine andere Instanz hemmend eingegriffen hätten – die Obrigkeit oder die Gesetze, der Instinkt, der Mond, die Angst, die unsichtbaren Wächter –, um abschreckende Maßnahmen zu ergreifen, wenn sie nach seiner Ansicht geboten waren, solche, die er für angebracht hielt. »Das ist der Stil der Welt«, sagte er angesichts so vieler Dinge und heikler Situationen, beschriebener oder erzählter oder geschehener oder voraussehbarer, während unserer Sitzungen, bei denen es um Deutung und Berichte ging (die Entscheidungen waren nur seine und kamen später); er sagte es angesichts von Verrat und Treue, von Ängsten und beschleunigtem Puls, von Herzrasen und Schwindel und Zweifeln und Qualen, angesichts des Stichs und des Schmerzes und des Fiebers und der unheilbaren Wunde, angesichts der Leiden und der unzähligen Schritte, die wir alle in dem Glauben tun, daß der Wille sie leitet oder zumindest an ihnen beteiligt ist. Alles erschien ihm normal und sogar routinehaft bisweilen, er wußte nur zu gut, daß die Erde verpestet ist von Leidenschaften und Affekten und von Haßgefühlen und Böswilligkeiten, und daß die Menschen oft weder die einen noch die anderen vermeiden können und es außerdem gar nicht wollen, denn sie sind Lunte und Nahrung ihrer Verbrennung, auch ihr Grund und ihr Funke. Und daß sie dafür weder einen Beweggrund noch ein Ziel benötigen, weder einen Zweck noch eine Ursache, weder Dankbarkeit noch Kränkung oder nicht immer, oder, wie Wheeler meinte, der deutlicher war, »sie tragen ihre Möglichkeiten im Blut, und es ist nur eine Frage der Zeit, der Versuchungen und der Umstände, die sie schließlich zur Entfaltung bringen«. Und wahrscheinlich war seine so drastische Bereitschaft – oder sie war nur praktisch, eine Folge seiner klaren, überzeugten, unerschütterlichen Visionen – für Tupra ein Kennzeichen mehr dieses Stils der Welt, in der Worte wie Mißtrauen, Freundschaft, Feindschaft, Vertrauen nichts als Prunk und Ornament und vielleicht unnötige Qual waren, zumindest soweit es ihn betraf; diese unüberlegte, entschlossene Haltung (oder sie beruhte nur auf einer Überlegung, der ersten) gehörte ebenfalls zu diesem Stil, der durch alle Zeiten und jeden Raum hindurch unveränderlich war, und es gab keinen Grund, sie in Frage zu stellen, so wie man es auch nicht in bezug auf das Wachsein und den Schlaf oder das Gehör und den Gesichtssinn oder das Atmen und das Sprechen oder all das zu tun braucht, von dem man weiß, »so ist es, und so wird es immer sein«.
Es handelte sich indes nicht um eine vorbeugende Haltung, nicht genau oder ausschließlich, sondern eher um eine, die auf Strafe oder Entschädigung bedacht war, je nach den Fällen und den Personen, die er schon sah und gleichsam im Trockenen beurteilte, ohne sich naßmachen zu müssen, um Don Quijotes Worte zu benutzen, als er Sancho die Narrheiten ankündigte, die er um Dulcineas willen begehen würde, ohne daß sie ihm Anlaß zu Kummer und Eifersucht gäbe, und wie viele erst, wenn sie es täte. Oder aber er verstand die Fälle mit noch ungeschriebener und vielleicht deshalb für immer leerer Seite. »Das Leben ist nicht erzählbar«, hatte Wheeler ebenfalls gesagt, »und es ist höchst merkwürdig, daß die Menschen sämtliche Jahrhunderte, die uns bekannt sind, damit zugebracht haben … Es ist ein vergebliches, zum Scheitern verurteiltes Unterfangen«, hatte er hinzugesetzt, »und es fügt uns vielleicht mehr Schaden als Gutes zu. Manchmal denke ich, es wäre besser, die Gewohnheit aufzugeben und zuzulassen, daß die Dinge einfach geschehen. Und sie dann ruhen zu lassen.« Doch die leere Seite ist die beste von allen, die in alle Ewigkeit glaubwürdigste und wichtigste, weil sie nie zu Ende geht und alles Platz in ihr findet, in alle Ewigkeit, sogar ihre Widerlegungen; und was sie sagt oder nicht sagt, kann daher (denn indem sie es nicht sagt, sagt sie schon etwas in einer Welt endlosen, gleichzeitigen, sich überlagernden, widersprüchlichen, ununterbrochenen, erschöpfenden und unerschöpflichen Redens) zu jeder Zeit geglaubt werden, nicht nur in der einen dafür vorgesehenen Zeit, die manchmal nichts ist, ein Tag oder ein paar verhängnisvolle Stunden, und andere Male sehr lang ist, ein Jahrhundert oder mehrere, und dann ist nichts verhängnisvoll, weil niemand mehr herausfinden kann, ob der Glauben wahr oder falsch ist, und das zudem niemanden interessiert, wenn alles eingeebnet ist. Also nicht einmal dann,
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