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Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)

Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)

Titel: Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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umständlich jedesmal‹, dachte ich; ›lauter kleine Komplikationen, wir haben es bequemer‹), keines der acht in ungebührlicher Positur, ich meine kein Beinpaar, alle schienen gleichermaßen das Übliche zu tun, das zu Erwartende und Gebührliche. Es war ein Augenblick, der rasche Blick, oder höchstens zwei, aber ich konnte nicht umhin, mich an das phantasierte Bild eines Märchens zu erinnern, das meine Mutter mir als Kind erzählte: eine der sieben Prüfungen, die der Held bestehen mußte, um seine Angebetete zu retten – Bauernmädchen oder geraubte, in einem Schloß gefangene Prinzessin, ich weiß es nicht –, bestand eben darin, sie an ihren Beinen zu erkennen, während der Rest des Körpers und das Gesicht hinter einem langen, aufgeklappten Fächerschirm oder hinter der entsprechenden, ebenfalls abgeschnittenen Tür verborgen waren, genau wie die von sechs oder dreizehn oder zwanzig weiteren aufgereihten Frauen, eine Erkennungsreihe wie auf den Polizeirevieren, nur daß sie befreienden und nicht anklagenden Zwecken diente und auf die Beine beschränkt war, nicht in sitzender Position wie die Beine in den Toiletten, sondern schön aufrecht, dem Helden waren nur die sechs, dreizehn oder zwanzig Waden- und Schenkelpaare sichtbar, er mußte erraten, welche seinem Hirtenmädchen oder seinem adligen Fräulein gehörten; wenn ich mich nicht irre, gab es irgendeinen Trick oder ein Detail – nicht eine Narbe, zu dürftig selbst für die Phantasie eines Kindes –, die ihm erlaubten, richtig zu raten und die Prüfung zu bestehen, wenn auch nur, um zur nächsten, noch schwierigeren überzugehen. Meine Mutter war nicht mehr auf der Welt und konnte nicht gefragt werden, welches das Erkennungszeichen war, und mein Vater würde sich bestimmt nicht an dieses Märchen erinnern, es kann sein, daß er, nicht Sohn, sondern Ehemann, es nie gehört und auch nicht darum gebeten hatte, vielleicht meine Schwester oder meine beiden Brüder, das war jedoch unwahrscheinlich, ich hatte im allgemeinen ein besseres Gedächtnis für die Dinge unserer Kindheit, und wenn meines versagte … ›Ich werde es nie wissen, aber das macht nichts, die meisten Menschen begreifen nicht, daß es nichts macht, nicht alles zu wissen, und doch wird immer viel zuviel gewußt, so daß wir einen großen Teil ungewollt oder gewollt vergessen, jedenfalls ohne uns zu sorgen oder es zu beklagen, obwohl es uns Tränen und Schweiß und Unerschrockenheit und Blut kosten wird, es zu gegebener Zeit zurückzuholen.‹

D ort hatte nun ich diese Reihe vor mir, Flavias Beine schienen sich nicht unter den sechzehn zu befinden, die jünger waren, fast alle Füße sehr gut beschuht – das fand meine Anerkennung: sie waren festlich –, mir fielen die eleganten Stöckelschuhe der Frau auf, die keine Strümpfe trug oder sie vor dem Hinsetzen ausgezogen hatte, ebenso den Slip – nichts hing um ihre Knöchel, sie waren frei –, natürlich war es nur ein sehr rascher Blick, die Frauen im Bereich der Spiegel protestierten nicht und stürzten auch nicht hinaus, ich spürte eher Erwartung oder Neugier in meinem Rücken als Empörung oder Beunruhigung, unsere skrupellosen Regierungsvertreter haben den Leuten soviel Angst eingejagt, daß diese in kurzer Zeit fügsam geworden sind, vor allem wenn jemand das erschreckende, herrische Wort ins Treffen führt, das alles rechtfertigt, »Sicherheit, Sicherheit«: selbst ironische Überschreitungen oder Demütigungen, die nicht als solche daherkommen, ich weiß nicht: die funktionalen.
    Vielleicht dachte ich es nicht in dem Augenblick, sondern später, als ich sehr viel später endlich zu Bett ging in jener Nacht oder es war bereits morgens, aber der Keim dieser Gedanken entstand sehr wohl in jenem Augenblick, in der bedrängten, aberwitzigen Situation in der Damentoilette, bisweilen scheinen sie auf wie Blitze und wir vertagen sie, weil wir sie in dem Moment nicht näher betrachten können, um später auf sie zurückzukommen und sie mit Muße und falscher Ruhe zu entwickeln; und doch kann man sagen, daß das Aufleuchten schon der Gedanke ist, konzentriert oder halb ungewußt (oder vielleicht ist er das Vorwissen eines Vorwissens). ›Ich hätte Luisas Beine unter sechzehn, einundzwanzig erkannt, obwohl ich sie jetzt schon seit langem nicht mehr sehe und sie bisweilen zu verblassen scheinen und sogar allmählich mit anderen, gegenwärtigen verschwimmen, die vorübergehend sind und sehr wohl vergessen werden‹, dachte

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