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Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)

Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)

Titel: Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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hätte gesagt, einen altmodischen Unterrock und eine noch altmodischere Leibbinde, und deshalb glaubte ich nicht, daß die unzugängliche dowager eines Geistlichen jemals auf noch wesentlichere Kleidungsstücke verzichtet hatte (vielleicht nicht einmal allein in ihrem Bett, schon gar nicht in einem fremden Haus und in zahlreicher Gesellschaft). Es gab eine mit Hosen, aber das war nicht Harriet Buckley, die kürzlich geschiedene Doktorin der Medizin, die Tupra zufolge an jenem Abend eher als Beryl und Frau Wadman (der Name nur ein mutmaßlicher) bereit sein konnte, das Terrain zu sondieren; ich hatte nicht auf sie geachtet und auch nicht mit ihr gesprochen, außer bei der Vorstellung, aber diese Doktorin entbehrte nicht einer gewissen elementaren Attraktivität, und es war wirklich ein Wunder, daß ihr der Rock nicht platzte, nicht, weil sie dick gewesen wäre, sondern weil der Rock so eng und knapp und anliegend war (diese Redundanzen sind tatsächlich nötig, um eine Vorstellung davon zu geben), und sie behielt während des ganzen Abendessens ihre Brille auf, die ihr ein zerstreut lasterhaftes Aussehen verlieh, etwas von einer forschen Sekretärin in einer nordamerikanischen Komödie der fünfziger Jahre (also von einer phantasierten Sekretärin); die sliplose Doktorin erschien mir als annehmbare Vorstellung oder erzeugte zumindest weder Unbehagen noch ein zu schlechtes Gewissen (nur einen Anflug), ebensowenig wie eine nackte Beryl oder ein junges Mädchen, das sich den ganzen Abend gelangweilt dort herumtrieb, ich hatte nie erfahren, wer sie war, sicher die studierende Tochter eines der Gäste, möglicherweise von Harriet Buckley selbst. Jedenfalls hatte ich sie mir aus der Ferne kapriziös und kühn vorgestellt, ihr Mund kündete von Schamlosigkeit (auseinanderstehende Schneidezähne; Lippen, denen es nie gelang, ganz geschlossen zu sein und damit diese obszönen Zähne zu verbergen); ich glaubte, nicht zu weit zu gehen, wenn ich sie mir entblößt vorstellte, ich meine, unter dem Rock.
    Eine der drei war wahrscheinlich in einem unglücklichen Augenblick in den ersten Stock hinaufgegangen, hatte ihren Tropfen verloren oder fallen gelassen, ohne es zu bemerken, genau wie die Mittelamerikanerin, die mir »danke« geantwortet hatte, das deutete darauf hin, daß sie den auf ihrem Schuh nicht bemerkt hatte, vor meinem Hinweis. Eine Verbindung dieser Faktoren während des Festes bei Wheeler war allerdings unwahrscheinlich, und ich wußte nicht einmal, ob so etwas wie mangelnde Voraussicht und der daraus folgende Fleck technisch überhaupt möglich waren (technisch oder physiologisch, um es irgendwie auszudrücken). Mir wurde klar, daß ich in London keine feste Freundin oder Geliebte hatte, die ich darüber hätte befragen können, niemanden, zu dem ich Vertrauen genug gehabt hätte, in Madrid wohl, in meinem normalen Leben hätte ich zuerst Luisa gefragt, auch meine Schwester war da und alte und einst feste Freundinnen, old flames wie Beryl für Tupra oder Tupra für Beryl, sie gleichgültiger gegenüber ihrer Vergangenheit. »Mein normales Leben«: ich konnte mich nicht an den Gedanken gewöhnen, daß es das nicht mehr war, ich war aus ihm vertrieben worden oder mein Grab dort war sehr tief, gegraben bis auf den tiefsten Grund; ich hatte noch immer das trügerische Gefühl, daß dieses andere Land eine Parenthese war, daß dieser zweite Aufenthalt in England ein nicht ganz gelebtes Leben war, eines, das nicht besonders zählte und für das man kaum verantwortlich ist, oder erst dann, wenn der immer unwahrscheinlichere – sicher heute abgeschaffte, bis auf Widerruf oder vielmehr bis zum nächsten Glauben gestrichene – große Tanz der Zeit stattfindet, die keine Zeit mehr ist oder eingefroren und ohne Verlauf. (»Am Sankt-Nimmerleins-Tag«, riefen wir Spanier ironisch angesichts solcher Aussichten aus, wobei wir Don Juan paraphrasierten, in den Worten eines Zeitgenossen von Marlowe; jetzt sagt man es weniger, aber man kann es noch immer hören, wenn die Zeit keine Furcht einflößt und es scheint, als würde das Angekündigte nicht kommen, weil in so großer Ferne.) Jene Phase meines Lebens mag im nachhinein provisorisch erscheinen, aber nichts ist jemals provisorisch oder eine Phase, solange es nicht zu Ende und abgeschlossen ist, und solange das nicht geschieht, verwandelt sich die Parenthese in den beherrschenden Hauptsatz, und man vergißt beim Lesen sogar, daß sich die Klammer geöffnet hat.
    Zwei Tage darauf

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