Dein Kuss in meiner Nacht
Schuld, dass sie so verwöhnt war und einfach nichts anderes konnte als Fingernägel lackieren und schminken?
Ich nahm meine Fische vom Feuer und begann zu essen. Sie hatten ein ganz weißes und zartes Fleisch und schmeckten wunderbar. Außer der dicken Hauptgräte hatten sie auch kaum kleine Gräten und waren somit leicht zu essen. Solange wir am Bach blieben, brauchte ich mir um Nahrung anscheinend keine Sorgen zu machen. Was mit Cherryl war, stand auf einem anderen Blatt. Irgendwann würde sie von ihrem hohen Ross runterkommen müssen. Spätestens heute Abend würde der Hunger sie sicher weich gemacht haben.
Während des ganzen Tages folgte Cherryl mir in sicherem Abstand. Ich hatte ein paar Beeren gefunden, die ich eindeutig als Himbeeren identifiziert hatte. Überhaupt schienen hier zum Teil dieselben Pflanzen zu wachsen, wie ich sie von zu Hause kannte. Ich hatte nur etwa ein Drittel der Beeren gegessen und den Rest für Cherryl übrig gelassen. Damit sie genug Zeit hatte, ihr erstes Essen an diesem Tag zu genießen, setzte ich mich in einiger Entfernung ins Gras und ließ meine Gedanken zu Cole wandern. Was er wohl gerade tat? War er in einem Verließ eingesperrt? Folterte man ihn vielleicht gerade in diesem Augenblick? Der Gedanke verstörte mich. Natürlich hatte ich schon oft in den Nachrichten gesehen, dass es überall in meiner Welt furchtbare Dinge gab, die Menschen anderen Menschen antaten, doch es hatte niemals jemanden betroffen, den ich kannte, für den ich etwas empfand. Zu wissen, dass er leiden musste, war für mich unerträglich, und ich versuchte, an etwas anderes zu denken, um nicht verrückt zu werden. Ich hoffte, dass wir uns heute Nacht im Traum wiedersehen würden. Er hatte gesagt, dass ich ihm Kraft geben würde. Das war schön, auch wenn es das Einzige war, was ich für ihn tun konnte. Er brauchte Kraft, um die schlimmen Dinge, die man ihm antat, zu überleben und hoffentlich von dort zu fliehen. Dass ich ihn vielleicht nie mehr wiedersehen sollte, war für mich nicht akzeptabel. Es musste irgendwie einen Weg für ihn da raus geben.
Nach einer Weile erhob ich mich und schaute nach Cherryl. Sie saß auf einem Stein und versuchte, ihre Haare mit den Fingern zu kämmen. Da sie sich offensichtlich satt gegessen hatte, ließ ich mich nicht mehr länger aufhalten und ging weiter. Sie würde mir ohnehin folgen. Ich hoffte, dass wir das Camp, von dem Cole gesprochen hatte, bald erreichen würden.
Am späten Nachmittag erreichten wir einen Platz, der sich gut zum Übernachten eignete. Diesmal bereitete ich zuerst die Feuerstelle vor und ging dann fischen. Ich fing vier Fische, denn mit einem Blick auf Cherryl war klar, dass sie nicht noch einmal versuchen würde, etwas zu fangen. Sie hatte offenbar eingesehen, dass sie mit ihrer Methode keinen Erfolg haben würde.
»Die Fische sind fertig«, verkündete ich eine halbe Stunde später. »Und sag mir nicht wieder, dass du nicht willst. Das ist albern. Wir müssen hier beide irgendwie überleben, bis wir gerettet werden, also lass deinen persönlichen Groll auf mich beiseite und komm essen.«
Zu meinem Erstaunen versuchte sie diesmal gar nicht, mich zu beleidigen, sondern kam gleich herüber und nahm wortlos einen Fisch entgegen. Wir aßen schweigend und machten uns danach für die Nacht zurecht.
Mit klopfendem Herzen entfernte ich mich von unserem Schlafplatz und ging am Bach entlang bis zur Biegung. Ich hatte seine Nähe gespürt und tatsächlich saß er etwa einen Meter höher auf einem Felsen, den Blick auf das Wasser gerichtet. Flink kletterte ich auf den Felsen und setzte mich neben ihn. Wir sprachen kein Wort, doch er nahm meine Hand in seine und ich lehnte mich an ihn, den Kopf an seine Schulter gelegt. Ich war so froh, wieder bei ihm zu sein. All die Anspannung des Tages fiel von mir ab und ich fühlte mich wohl und geborgen.
»Ich versuche morgen zu fliehen«, sagte er so plötzlich, dass ich erschrocken zusammenzuckte.
»Tun sie dir immer noch weh?«, fragte ich. Das Wort › foltern‹ wollte ich nicht benutzen. Es klang zu schrecklich.
Er wandte mir den Kopf zu und ich sah sein Gesicht. Entsetzt schrie ich auf. Seine Nase war gebrochen und er hatte einen Schnitt über dem rechten Auge. Ein zweiter zog sich von seiner linken Schläfe bis zum Kinn hinab.
»Was kann ich tun?«, flüsterte ich besorgt.
»Du tust schon alles, was du kannst«, erwiderte er. »Weil du da bist, weil du meine Nächte friedvoll machst und frei von
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