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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Falten um ihre Augen. Genausogut könnte er behaupten, daß es die Sprechtrainerin nicht gibt, die ihm der Rundfunk auferlegt hat, bevor er die Reihe übers Heilige moderiert, und erklären, warum er sie erfunden hat.
    Das Wort »Vorwurf«, gegen das sich der Freund in Köln wehrte, nahm der Bildhauer aus München zurück. Als der Bildhauer auflegte, weil die Gnädige Frau ihn wieder ans Bett rief, begriff der Freund den Vorwurf. Der Freund macht sich den Vorwurf selbst, so entschieden er daran festhielt, nicht unrecht gehandelt zu haben. Der Vorwurf, den der Bildhauer zurücknahm, betrifft nicht – oder nicht direkt – den Roman, den ich schreibe, wie der Freund befürchtet hatte. Vielleicht war dem Bildhauer der Roman auch egal geworden oder wollte er seinen Ärger noch nicht daran festmachen. Der Vorwurf, den der Bildhauer zurücknahm, bestand darin, daß der Freund im Stadion gesessen hatte. Der Vorwurf war, daß dessen Leben weiterging. Er sagte nicht, aber meinte: Hier ist es Ernst, und du gehst zum Fußball. Du tust so, als sei es dir Ernst, und gehst zum Fußball. Daß der Vorwurf verunglückt war, hätte der Bildhauer erkannt, ohne daß der Freund es ihm hätte unter die Nase reiben müssen. Vielleicht meinte der Bildhauer doch den Roman, den ich schreibe, und wußte derart aufgelöst nur nicht, was genau ihn daran verletzte. Der Freund fragte nicht nach, sondern verteidigte sich damit, daß er schon wegen der Tochter nicht aufhören könne mit Hausaufgaben, Abendbrot, der Lesung morgen in Bremen, die einen Wochenlohn plus sieben Prozent Mehrwertsteuer einbringe, und eben auch nicht mit Fußball am Wochenende. Er wolle nichts vergleichen, aber habe ebenfalls seine Nöte, das könne der Bildhauer ihm glauben. Der Freund erklärte nicht, daß er auch ohne die Tochter ins Stadion gegangen wäre. Er erwähnte nicht das Interview für eine Literaturzeitschrift, das er nicht für Geld, sondern aus Eitelkeit gab, erwähnte nicht den Anruf beim Internetprovider wegen eines Fehlers der Software, bei der Krankenkasse wegen des Antrags auf eine Haushaltshilfe und bei der Schwester der Frau wegen der nochmaligen Versicherung, kein Schurke zu sein, trotzdem er über Silvester in den Skiurlaub gefahren war. Schon gar nicht erwähnte er die Gedanken über das Verdrängen, das ihm angeblich nicht mehr gelingt. Nein, er verteidigte sich ausschließlich mit der Tochter und erzwang so die sofortige Kapitulation mitsamt Reparationszahlungen in Form eines Geständnisses. – Ich bin am Ende, weinte der Bildhauer in München. Die Rückenschmerzen der Gnädigen Frau lassen nicht nach. Den ganzen Tag und fünf-, sechsmal während jeder Nacht springt er auf, um etwas für sie zu holen. Zu allem anderen kommt so die Übermüdung hinzu. Die Ärzte, die er um Hilfe ruft, zucken mit ihren verfluchten Schultern. In der Klinik ist gerade kein Bett frei. Später am Abend erfuhr der Freund vom Musiker einige Einzelheiten des Alltags in München, auch über die vollständige, anhaltende und wechselseitige Überforderung zweier Menschen, die stark sind, sich lieben und nun einfach nicht mehr können. Nur: Was heißt das schon, nicht mehr zu können? Als ob sie die Wahl hätten, nicht zu können. Normalerweise setzt man sich in den Zug und fährt hin, wenn ein Freund um Hilfe ruft, egal, ob man gemeint ist – und er war gemeint, eindeutig, auch wenn der Bildhauer ihm gegenüber niemals das Wort Hilfe in den Mund nähme, so eingestanden verzweifelt, fertig mit den Nerven, bar jeder Lebensweisheit er sich zeigte. Allein, die Frau des Freundes wird gerade operiert, in dieser Minute, am Montag, dem 22. Januar 2007, um 10:29 Uhr, Karl Otto Hondrich in Frankfurt morgen beerdigt. Du mußt auf deiner Baustelle bleiben, betonte der Bildhauer in München, dem es peinlich war, sich nicht von selbst nach der Frau in Köln erkundigt zu haben, in deren Krankenzimmer es ohne Bett so leer ist.
    Der Gastgeber in Bremen war Zeuge, wie der großgewachsene Herausgeber Hölderlins und ein kleingewachsener Stuttgarter Buchhändler in der Gaststätte eines kleinen norddeutschen Bahnhofs auf den Tisch stiegen und lauthals griechische und lateinische Sentenzen deklamierten. Als Zungenreden beschrieb es der Gastgeber. Die Hemden hatten sie sich vom Leib gerissen, erst der kleine Buchhändler, dann der

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