Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
Vom Netzwerk:
aber auf dem Kotflügel des Vaters durfte jede Frau Platz nehmen, wie die Mutter sich noch immer ärgerte. Der Schwippschwager will nicht aufs Bild, weil darauf später nur noch Leichen zu sehen seien, wie er sagt. Die Mutter ruft, daß das Essen kalt wird. Der Sohn findet die Vorstellung des Schwippschwagers gar nicht beängstigend und die Endlichkeit einen Trost. Was übrigbleibt sind nicht die Qualen, sondern die Pyjamahosen, das erste Auto, die Frau auf dem Kotflügel, die Tränen von einem der Kinder oder Kindeskinder, weil man ihm etwas Haltbares mitgab, einen Rat, eine Geschichte oder ein Fahrrad. Vielleicht sollte der Sohn, statt sich mit der Direktrice zu verabreden oder Hölderlins Herausgeber zu besuchen, mit Großvaters Selberlebensbeschreibung fortfahren, sobald die Baustellen schließen, wenn schon die Mutter nicht über die zwanzigste Seite hinauskam. In jedem Fall sollte es ihm gelingen, sich über das Ultraschallbild zu freuen. Er darf das. Die Ungeborene ist so groß wie seine Hand, wenn er die Millimeterangaben richtig behalten hat. Sie soll erfahren, nein: du sollst erfahren, wer Großvater war, so daß die Vergänglichkeit ein paar Jahre oder sogar Jahrzehnte länger tröstet.
    Er kann nicht nicht an München denken. Bei jedem Satz, den er schreiben möchte, denkt er, daß der Satz von der Gnädigen Frau berichten müßte, von kurzen und etwas längeren Telefonaten. Doch dann will der Freund aus Köln tatsächlich einen Satz anfangen, und es gelingt ihm nicht einmal das erste Wort. Was gäbe es auch zu sagen? Wenn die Ärzte die Schmerzen nicht in den Griff kriegen, wie es in dem Jargon heißt, den der Freund längst übernommen hat, ist die Marter bald von biblischem Furor. Wobei das auch dummes Zeug ist: die Intensität des Leidens im Verhältnis zu der Anzahl von Tagen, dem Bewußtseinsgrad, der enttäuschten Hoffnung und anderen Faktoren zu setzen. Jetzt in dieser Minute, am Montag, dem 5. Februar 2007, um 22:17 Uhr oder 22:24 Uhr oder 22:41 Uhr, da die Gnädige Frau ihre erste Nacht in der neuen Klinik im besten Falle schlafend oder dämmernd verbringt, prallt alles ab wie die Reden der Freunde an Hiob. Und dann ist da noch etwas anderes, was den Freund in Köln dazu brachte, am einen Tag von der Sprechtrainerin, am anderen von Familienphotos zu berichten. Er hoffte, er könnte es heute abend fassen, aber es gelingt ihm nicht. So früh es auch ist, so müde er bereits. Würde ist eines der Wörter, die ihm die ganze Zeit durch den Kopf schwirren, die Würde der Gnädigen Frau, doch ist ihm nicht klar, wie genau er sie verletzt. Er konzentriert sich darauf, nichts zu tun, was durch den Roman angestiftet sein könnte, den ich schreibe, und tut es vielleicht gerade dadurch. Er nimmt sich vor, nicht von der Gnädigen Frau zu berichten, und schreibt, daß er sich vornimmt, nicht von der Gnädigen Frau zu berichten. Um überhaupt etwas zu tun, nimmt er sich vor, Mails zu beantworten, und kann nicht Totenbuch2007.doc wegklicken, wie die neue Datei heißt, weil die alte den Laptop jedesmal zum Absturz brachte, wenn er sie öffnete. Es ist, als seien die Augen eine Kamera, die sich nicht abschalten läßt, so wie auf Flughäfen oder in Banken. Selbst wenn die Bilder niemand anders sehen wird – allein daß er sie aufnimmt, verändert seinen Blick. Alles geht weiter, wie es anders nicht sein kann, aber entwürdigt; die Termine, Podien, Pflichten des Haushalts, des Mannes und Vaters. Nein, nicht die Dinge, er selbst entwürdigt sich, der die Augen schließen kann, aber nicht vor den Bildern im Kopf, die die Kamera aus München übermittelt.
    In siebenundzwanzig Minuten wird er in München aus der Schnellbahn steigen und den Musiker auf dem Marienplatz treffen, von wo sie mit dem Taxi zur Palliativstation fahren. Als er mit dem Musiker telefonierte, tat der Freund aus Köln so, als wüßte er, was eine Palliativstation ist. Den sprechenden Namen des Krankenhauses kommentierte er genausowenig. Alles wird selbstverständlich, obwohl der Freund nichts versteht. In der digitalen Enzyklopädie seines Laptops ist »palliativ« nicht erklärt. Immerhin taucht das Wort in anderen Einträgen auf, unter »Chirurgie«, unter »Krebserkrankungen«, »Neuralgie«, »Operation«, »Radiologie«, »Strahlentherapie«. In der Chirurgie widmet

Weitere Kostenlose Bücher