Dein Name
Zweifel soll er den Notarzt rufen, besser zu oft, sagte die Gynäkologin, als das eine Mal zu spät. Seelenruhig schläft die Ungeborene unter der Bauchdecke, reckt sich auch schon manchmal, bewegt die Arme und Beine, die sie inzwischen hat, und ahnt nicht, welche Sorgen sich die Eltern machen, welche Sorgen sie sich machen wird, was überhaupt Sorgen sind. »Jetzt schreibe ich Ihnen, nicht mehr Ihrem Mann. Ich weià nicht, wo Sie sind, was Sie durchleiden, ob die Konturen eines Alltags erkennbar sind, aber wenn ich etwas tun kann für Sie, und sei es nur, die Verzweiflung zu teilen, geben Sie mir ein Zeichen, ich setze mich in den Zug, oder Sie kommen nach Köln, was Sie ohnehin vorhatten.« Setz mich in den Zug ist natürlich gut. Und wenn die Witwe von Karl Otto Hondrich ihn tatsächlich um Beistand bäte? Sie wird es nicht tun, richtig â aber wenn? Wird er um Verständnis bitten? Weshalb bietet er ihr dann an, sie zu besuchen, die Verzweiflung zu teilen, was für ein Hohn, als ob ihre Verzweiflung teilbar wäre, als ob er mit zweimal einer Stunde Zugfahrt, zweimal fünfzehn Minuten S -Bahn und Teetrinken von vielleicht ein, höchstens zwei Stunden auch nur den Zipfel ihrer Verzweiflung in der Hand hielte.
Der Cousin aus New York, der die Eltern in Siegen besucht, projiziert schwarzweiÃe Familienphotos an die Wand, die er auf seinen Reisen nach Iran gesammelt hat. Die ersten Tränen flieÃen beim Bild eines schlanken, attraktiven Mannes mit Halbglatze, etwa fünfunddreiÃig, vierzig Jahre alt, der bei der Arbeit als Tierarzt so viel Menschennot sah, daà er zurückkehrte an die Universität, um sich in Humanmedizin einzuschreiben. Den Vater, der nach dem Abitur zunächst Lehrer oder Ingenieur werden wollte, bewegte er zu einer anderen Entscheidung: Werde, was auf Erden am meisten hilft â werde Arzt. Kurze Zeit später, der Vater hatte sein Medizinstudium schon begonnen, starb der Mann mit Halbglatze bei einem Autounfall, weshalb der Sohn aus Köln seinen Namen nie gehört hat. Dafür hat er jetzt verstanden, warum nicht nur der Vater, sondern auch die Brüder, Onkel, Cousins und Schwägerinnen von Beruf Arzt sind. Grob geschätzt zehn Prozent der Menschen auf den Photos leben noch. Dem Sohn geht auf, daà man sich bei den damaligen Familientreffen genau die gleichen Geschichten erzählt haben wird, nur von anderen Gestorbenen. WeiÃt du noch, der? Im besten Fall fällt der Nachsatz günstig aus: WeiÃt du noch, was der mir geraten, wie der immer geholfen, welche Geschichten der erzählt, wie lieb der zu uns Kindern war? Mehr Ehrgeiz, als einige Jahre oder sogar Jahrzehnte die Frage weiÃt du noch der? hervorzurufen, während die Kinder lärmen, wäre verfehlt. Eines ihrer Kinder, die murren, als sie sich zum Gruppenphoto aufstellen müssen, wird die Bilder betrachten, die am Sonntag, dem 4. Februar 2007, in Siegen aufgenommen werden, und fragen, weiÃt du noch der? Nein, keine Ahnung. Nie den Namen gehört. Aber guck mal, wie komisch der guckt. Es ist ja auch komisch, wenn auf einem der schwarzweiÃen Gruppenphotos die Männer zu Hemd, Krawatte und Sakko Pyjamahosen tragen. Das war früher in Iran so, daà der Gastgeber männlichen Gästen feierlich Pyjamahosen aushändigte, damit sie es sich auf dem Teppich im Herrenzimmer bequem machten. Dann rief einer, daà im Innenhof die Kamera aufgestellt ist, jetzt beeilt euch doch endlich, kommt, macht schon, und GroÃmutter rief, daà das Essen kalt wird, ach kommen Sie, GroÃmutter, das geht ganz schnell, und dann haben die Männer überlegt, ob sie für das Photo die Hosen wechseln sollten, aber nein, das Essen wird kalt, GroÃmutter hat schon dreimal gerufen, also kommt, Jungs, zieht das Sakko drüber, und dann ist gut. Und so saÃen, standen und lagen sie in drei, vier Reihen hintereinander, die Frauen im Kostüm und damals alle ohne Kopftuch, die Kinder ungeduldig, die Männer mit Pyjamahosen unter dem Sakko, Vater ein Teenager, der sich rastlos wahrscheinlich am meisten langweilte, oder auf einem anderen Photo als zweijähriger Knirps, der scheu zwischen zwei Erwachsenenbeinen hervorlugt. Dann die vielen Photos mit Fahrrad, alle aus der gleichen Zeit, frühe vierziger Jahre, schätzt der Sohn, aber auf dem Fahrrad des Vaters durfte niemand anders fahren, wie der Vater gestand. In den Fünfzigern die Photos mit Auto,
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