Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
Vom Netzwerk:
Bank, von Lesung zu Lesung, von Köln nach München nach Berlin nach Hamburg nach Köln rennt, seine Tage voll mit Reden, reden mit Journalisten, die sich für Romane begeistern, wie er sie früher schrieb, reden über Projekte, die ihn einmal begeisterten, reden zu einem Publikum, das er zu begeistern hofft, reden mit Gastgebern, für deren Begeisterung er sich bedankt. Zweimal in drei Tagen beging er den Fehler zu gestehen, wohin sein Blick ständig abschweift. Zum Teufel mit eurem Trost.
    Daß sie die Lippen fest aufeinanderzupressen scheint, wirkt ein bißchen verbissen, als wolle sie allen mitteilen, die sie in ihrer Unter- oder Oberwelt photographieren meinen zu müssen, daß sie schlafe. Auch die Lider sehen aus wie zusammengekniffen. Auf dem anderen Bild scheint der Mund offen, das linke obere Lid gesenkt, als sei ihr Zustand tatsächlich der unseres Schlafs. Immerfort fragt er sich: Wo ist sie, in welchem Oben oder Unten? Welcher Art sind ihre Empfindungen, was ist ihr Zustand, was ihr Bewußtsein? Das rechte Auge ist durch ihre Hand verdeckt – djunam! , meine Seele, wie er hoffentlich erst um den 14. Juni herum in seiner Muttersprache sagen wird.Es wird eine halbe Einbildung sein, wenn er die typische Mund- und Kinnpartie seiner Familie väterlicherseits zu erkennen meint, deren immer gleiche Wiederkehr auf den Photos verblüfften, die der Cousin aus New York an die Wand projizierte. Das ist sie, ja, dort: oberhalb des Kinns die Kuhle. Sogar Haare scheint die Ungeborene bereits zu haben, dunkle Haare. 23 Zentimeter, 367 Gramm. So groß schon, so schwer! Der Laptop, auf dem der Vater tippt, ist 29 Zentimeter breit, wie er ausmißt, um beim nächsten Ultraschall einen Maßstab zu haben.
    Mullah Mirza Mohammad hatte die Koranschule von seinem Vater Mullah Ali Asghar übernommen, der immer noch im Haus lebte. Wenn er nicht über den Stock gebeugt im Garten auf- und abschlurfte, trug der greise Mullah in seinem Zimmer auf der anderen Seite des Hofes Gebete oder den Koran vor. Zusammen mit dem Gezwitscher der Vögel und dem Plätschern des Wassers im Hof bildete der Singsang die Melodie, die Großvater aus seiner ersten Schulzeit noch im Ohr hat, als er sein eigenes Leben beschreibt. Manchmal blökte ein Esel in der Gasse oder pries ein fahrender Händler seine Waren an. Die Frau von Mullah Mirza Mohammad wird gelegentlich etwas gerufen oder sich mit jemandem unterhalten haben, der an der Haustür geklopft hatte, eine Nachbarin, die auf einen Schwatz hereinschaute, oder der Handwerkerjunge, der die geflickten Schuhe oder Nun-e sangak vorbeibrachte, das Fladenbrot aus dem Kieselsteinofen, das nur frisch gebacken schmeckt, dann allerdings sensationell (die Gerüche seiner Kindheit erwähnt Großvater nicht). Nein, die Haustür stand meist offen, lese ich einige Zeilen später, so offen wie für Prinz Zell-e Soltan. Also werden die Besucher sich durch Rufen bemerkbar gemacht und damit den Unterricht zuverlässig gestört haben. Aber wenn nichts zu hören war, kein Rufen, kein Schwatz, kein Esel, dann spielten immer noch das Wasser, die Vögel und der greise Mullah ihre Weise, in die gelegentlich eine Biene oder eine Fliege einfiel. Über Mullah Ali Asghars Angewohnheiten machten die Frechen und Vorlauten unter den Kindern – Großvater verschweigt, ob er selbst zu den Frechen und Vorlauten gehörte – sich gern lustig. Zum Beispiel hatte der greise Mullah eine penible Art, sich nach dem Gang aufs Klo, auf dem man sich in Iran mit Wasser zu säubern pflegt, abzutrocknen. Weil Tücher von Menschenhand berührt, daher rituell unrein sein könnten, klemmte er sein Gewand unter die Achseln, bückte sich nach vorne und streckte sein nacktes Gesäß zur Sonne, die im Leben das reinste ist, bis sich der letzte Tropfen in Luft aufgelöst hatte. So kurios sah das aus, daß die Kinder unter dem Vorwand, selbst ein Bedürfnis zu haben, der Reihe nach das Klassenzimmer verließen, wann immer der greise Mullah im Toilettenhäuschen verschwand. Dann verschanzten sie sich hinter einem Lehmgitter und warteten auf das Schauspiel der rituell überkorrekten Trocknung. Weil das ebenso plötzliche wie kollektive Bedürfnis Mullah Mirza Mohammad bald mißtrauisch machte, erlaubte er nicht mehr als einem oder höchstens zwei Kindern gleichzeitig aufs Klo zu gehen. Also beeilten sich die frechen und vorlauten

Weitere Kostenlose Bücher