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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Manchmal begegne ich einem Menschen wie Ihnen, dann hat es viel mehr als die Bezahlung gelohnt. / Ja, es wäre wichtig, mit Ihnen länger zu reden als auf einer Hinterbühne vor dem Auftritt. Bis Juni komme ich aus Köln kaum weg, nur zu den Lesungen, und dann bin ich abends noch oder früh am nächsten Morgen schon wieder auf dem Heimweg. Sie leben in Berlin, oder? Im März bin ich dort, das wäre eine Gelegenheit, ich könnte mittags anreisen. Ansonsten sind Sie herzlich und jederzeit eingeladen, mich in Köln zu besuchen. / Daß der Tod Menschen zusammenbringt, ist vielleicht das, was im Islam die Sakina genannt wird oder im Judentum die Schechina, die göttliche Ruhe, die sich insbesondere auf Sterbende herabsenkt. Vielleicht ist sie nichts anderes als die Freundschaft, die unter den Anwesenden gestiftet wird.«
    Das Kapitel über die Grundschule, an die er von der Koranschule wechselte, beginnt der Großvater damit, Klasse für Klasse sämtliche Fächer und Unterrichtszeiten aufzulisten. Von den meisten Lehrern ist auch zu erfahren, wie ihre Väter hießen, welches Fach sie an welchen Tagen unterrichteten und ähnliches mehr. Außerdem erklärt Großvater die genaue Lage der Schule mitsamt den früheren und heutigen Straßennamen und zählt die fünf Mitschüler auf, die »Gott sei gepriesen noch das Geschenk des Lebens genießen«. Auch von der Eslamiye-Schule, die Großvater als nächstes besuchte, hat er vor allem die Namen von Lehrern und Absolventen behalten, bei deren Auflistung er sich immerhin auf die beschränkt, die es im Leben besonders weit brachten. Kein Wunder, daß sein gelehrtester Freund urteilte, die Selberlebensbeschreibung, die Großvater als bald Neunzigjähriger noch so beseelt verfaßte, sei nicht von allgemeinem Interesse: »1. Der verstorbene Mirza Mohammad Taghi Adib Tusi (Rektor) / 2. Der verstorbene Mirza Abdola’emmeh, genannt Sadr ol-Afazel (Korektor) / 3. Der verstorbene Scheich Mohammad Hossein Fazel Tuni (Arabisch) / 4. Der verstorbene Mirza Mohammad Schafi, Sohn des verstorbenen Hadsch Mirza Yahya (Persisch und Schrift) / 5. Der verstorbene Mirza Mohammad Hossein, Sohn des verstorbenen Hadsch Mirza Yahya (Persisch) / 6. Der verstorbene Abdolhossein Chan Zanyani (Englisch) / 7. Der verstorbene Massih Chân Molabbas Balbas Nezam-e Waqt (Militärisches Training, Schwert und Gewehr). / 8. Der verstorbene …« und so weiter, alle tot, alle nur noch Namen, die der Enkel abschreibt, um ihre Vernichtung, wenn schon nicht ewig, wenigstens ein, zwei weitere Generationen hinauszuzögern. »Ach! und die Seele kann immer so voll Sehnens seyn, bei dem, daß sie so muthlos ist!« Einige Zeit bevor Großvater sein Leben beschrieb, besuchte er den Vortrag seines ehemaligen Mitschülers Mohammad Fateh in der Französisch-Iranischen Gesellschaft in Teheran, der die Anerkennung aller anwesenden Professoren und Persönlichkeiten gefunden habe. Da Großvater sich außer an Doktor Esmail Arzam nicht an die Namen der Anwesenden erinnert, muß er darauf verzichten, sie ebenfalls aufzuführen.
    Aus dem Verlag hört er, daß der Verleger vom Tod seiner Mutter mehr mitgenommen sei als erwartet (von wem erwartet?). Aus Siegen hörte er gestern, daß der Vater nicht wieder Krebs hat, nachdem letzte Woche auf seiner Haut ein Fleck entdeckt worden war, der die Ärzte beunruhigte. Um den Sohn nicht zu beunruhigen, hatten die Eltern nichts erwähnt. Im Kino hörte er am Abend in einem deutschen Film die Tombak, die persische Trommel, und las im Abspann den Namen des Musikers aus München. Jetzt hört er im Büro persische Chansons aus den fünfziger und sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, die die Frau des Cousins in Isfahan aufgenommen hat. Dessen Vater ist auch schon lange krank. Seit Wochen nimmt sich der Neffe in Köln vor, bei dem Onkel anzurufen, und versäumt es. Am Sonntag, dem 18. Februar 2007, würde er zum Hörer greifen, wenn es in Isfahan nicht bereits 4:58 Uhr wäre. Deshalb wollte er unbedingt in den Osterferien nach Iran, auch deshalb: um noch einmal die Alten zu sehen, vor allem die drei verbliebenen Schwestern des Vaters und den Bruder der Mutter, alle um die Achtzig. Der andere oder derselbe Grund war die Tochter, die allmählich die Verbindung verliert. Im Frühling vor drei Jahren reiste die Familie das letzte Mal nach Iran, als

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