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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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der sich zum Schah ausrief; gesellschaftlich läutete sie in Isfahan dennoch ein neues Zeitalter ein. Ein Hauptanliegen der Konstitutionellen Bewegung war es, der Geistlichkeit das Wissensmonopol zu entreißen und Kindern aus allen gesellschaftlichen Schichten eine zeitgemäße, weltliche Bildung zu verschaffen. Die Kadscharen hatten die Etablierung eines modernen Schulsystems nicht nur vernachlässigt, sondern weltliche Schulgründungen unter Nasser od-Din Schah sogar zeitweise unter Strafe gestellt, um sich der Unterstützung reaktionärer Theologen zu versichern – dasselbe Kalkül, aus dem sie immer wieder Progrome gegen Babis, Bahais und vereinzelt auch gegen Juden erlaubten, am häufigsten Zell-e Soltan in Isfahan, das bereits im neunzehnten Jahrhundert als besonders religiös und konservativ galt. Die führenden Konstitutionalisten, unter denen sich Mullahs, Intellektuelle, aber auch viele Babis, Bahais und Angehörige anderer Minderheiten befanden, hoben stets hervor, daß sich die Volksherrschaft in Iran dauerhaft nur etablieren würde, wenn das Volk nicht länger unmündig gehalten werde. In Isfahan galten weniger die Missionarsschulen im christlichen Vorort Djolfa als Modell, wie Großvater vermerkt, als vielmehr die Schule im jüdischen Viertel Djubareh, also im Zentrum der Altstadt, die auch Kinder aus armen Familien sowie Mädchen aufnahm. Die Finanzierung der Djubareh-Schule war ebenso simpel wie gerecht: Jedesmal, wenn eine jüdische Familie Fleisch aß, führte sie einen Viertel Abbasi an die Schule ab, für eine Mahlzeit mit Geflügel hundert Dinar. Gegen den Protest der reaktionären Geistlichkeit um Agha Nadjafi eröffneten infolge der Konstitutionellen Revolution zahlreiche weltliche Schulen in Isfahan, darunter die ersten für muslimische Mädchen. Berühmt wurde die Isfahaner Waisenschule, weil sie noch Jahrzehnte später als eine der besten der Stadt galt. Die gleichen Intellektuellen, die die Waisenschule eingerichtet hatten, gründeten auch die Aliye-Schule, die Kindern aus armen Familien Stipendien gewährte. Sechs Lehrer nennt Großvater, den verstorbenen Mohaseb od-Douleh (Direktor und Lehrer für Geometrie und Algebra), den verstorbenen Agha Sayyed Mohammad Ali, genannt Moín ol-Eslam (Korektor), den verstorbenen Scheich Mirza Hassan Dawarpanah, bekannt als Kadi Asgar (Arabisch), den verstorbenen Mirza Fazlollahchan (Mathematik), den verstorbenen Barun Zohrab Armani (Englisch) und den verstorbenen Saíd Efendi (Französisch). Großvater betont, daß es nicht alle waren. Auf die Namen der Väter verzichtet der Enkel am Karnevalsdienstag. Zwar interessiert es ihn nach wie vor, daß Hannß Jerg Remboldt von der Mutter Hölderlins Zellg Steetsfeld für 61. f erwarb, 8. f teurer als der Schätzwert, aber aus dem Fenster hört er die Trommeln von der Nubbelverbrennung. Auf dem Nippeser Veedelszug, den er nicht beschreiben darf, weil er versprochen hat, nicht mehr in Lokalpatriotismus zu schwelgen, beobachtete er nachmittags, wie seine Tochter dem kleinen türkischen Mädchen, das mit kürzeren Händen neben ihr stand, immer wieder etwas von ihrer Kamelle in die Stofftüte warf. Er sah genau, wie die Tochter jedesmal kurz zuckte und sich dann überwand, es doch abzugeben, und zwar nicht nur die Minitüten Gummibärchen oder die Lakritze, die sie ohnehin nicht mag. Um 23:23 Uhr oder 23:47 schließt er eine Wette mit sich selbst ab: Wenn die Tochter später einmal gefragt wird, was uns auf Erden aufgetragen ist, wird sie spontan antworten, daß man Gutes tun solle seinen Mitmenschen. Es ist wichtiger, ein guter Mensch zu sein als ein guter Muslim, lehrte Großvater das seinen Kindern, lehrten seine Kinder das ihren Kindern, lehrt der Enkel es seiner Tochter mit einem Prophetenwort, dessen Überlieferungskette zweifelhaft ist.
    Seinem Instinkt als Berichterstatter folgend, pirschte er sich an den Häuserwänden entlang wie unter Kanoneneinschlägen die dreihundert Meter vom Büro zum mittelalterlichen Stadttor – und da geschah es, ein paar Minuten später, etwa um halb eins in der Nacht zum Aschermittwoch 2007 nach Christi Geburt in Colonia Claudia Ara Agrippinensium: Der Romanschreiber schunkelte mit. Was soll das auch? Wer von arabischen Marktplätzen schwärmt, hat nichts gegen die Trommler und Pfeifer im Viertel einzuwenden, die alles andere als

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