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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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virtuos, dennoch in der letzten Karnevalsstunde des Jahres genauso stimmungsvoll anarchisch musizieren wie auf dem Djemaa el Fna. Kollektive außerhalb des Fußballplatzes, ob beim Nordatlantikpakt oder im Karneval, ist der Romanschreiber nicht gewohnt, ob er auch den Reiz und sogar die Notwendigkeit von Gruppengefühlen anerkennt. Selbst in der Kneipe gehört er nicht dazu, sondern ist als Kauz gelitten, schnellsprechend, höflich und kann gut schreiben, das in etwa werden die häufigsten Attribute sein, die man mit dem Romanschreiber verbindet, schweigsam vielleicht auch. Mag Heimito von Doderer. Wenn jemand wie er ins Schunkeln gerät, hält er das für bemerkenswert, nicht für die Mitschunkelnden, die ihn gar nicht bemerken – bemerken würden sie ihn, wenn er starr bliebe bei melancholischstem Kölle Alaaf , oder nein, nicht einmal dann.
    Zwei Generationen vor mir war eine Reise von Isfahan nach Teheran nichts Gewöhnliches, der Zustand der Wege miserabel, die Gefahr von Wegelagerern groß, an Hilfe im Notfall nicht einmal zu denken. Das brandneue Verkehrsmittel, über das alle Menschen staunten, war ein Vierspanner, dessen Pferde alle vierzig oder fünfzig Kilometer ausgetauscht wurden, wie Großvater in seinen Erinnerungen schrieb, die leider niemals gedruckt worden sind. Auch nachts fuhr die Kutsche nach Möglichkeit durch. So Gott wollte, erreichte man auf diese Weise Teheran nach vier Tagen und Nächten. Heute sind es mit dem Auto vier oder fünf Stunden, wobei wir die Strecke immer fliegen. Großvater erschien es, wie er schreibt, nicht abwegig hinzuzufügen, daß die Kutsche kein Dach hatte. Die Reisenden mußten also die heiße, grelle Sonne des Sommers und die Kälte und den Regen der anderen Jahreszeiten ertragen, im Winter nicht selten den Schnee. Schwierig war es auch mit dem Schlaf: wegen des Geschaukels gelang er meist nur für Minuten oder halbe Stunden. Mehr Zeit verbrachten die Reisenden vor Müdigkeit oder Schmerz, vor Hitze oder Kälte in einer Art Dämmerzustand, der Gespräche und Gedanken ausschloß. Schlimmeres passierte in der Regel nicht, als daß ein Hut aus der Kutsche fiel oder ein Umhang auf den Boden. Nur wenn der Kutscher einschlief, drohte Verhängnis. Dann konnten die Pferde vom Weg abkommen, die Kutsche sich überschlagen, ein Reisender auf den anderen fallen und obendrauf das schwere Gefährt. Viele Male hat Großvater einen solchen Unfall selbst erlebt, und der Leser könne sich, wie er schreibt, ausmalen, wie unbehaglich die Reisenden sich in der Wildnis fühlten, in der Steppe, in der Wüste oder auf dem Bergrücken. Die Fahrt kostete pro Person einen Rial, außerdem fünf Schahi Trinkgeld für den Pferdetreiber in jeder Karawanserei, in der die Pferde ausgetauscht wurden, und ein oder zwei Toman für den Postbeamten, der die Kutsche in Empfang nahm. Was die Beträge bedeuten? Großvater beschrieb siebzig Jahre später die Szene seiner ersten Abreise aus Isfahan, die damals für die Verwandtschaft hochdramatisch gewesen sei, einen heutigen Leser jedoch eher zum Lachen bringe – »sie sind nur noch Namen«. Die Tanten, Cousins, Cousinen und anderen Verwandten, die in der Eingangshalle standen, um den Jungen zu verabschieden und ihm Gebete mitzugeben, von ihnen allen sind nur die Namen übrig. Da er sie nicht aufgeschrieben hat, sind sie weitere dreißig Jahre später nicht einmal mehr Namen. Dreimal wurde die Sure Ya-Sin rezitiert, mehrfach der Koran in die Höhe gehalten und Großvater angeschubst, drunter herzugehen. Die Verwandtschaft begleitete ihn bis zum Sadeghiha-Basar, wo die Kutsche abfuhr, ein Pulk von fünfzig, sechzig Menschen. Wo geht’s hin? wunderten sich die Nachbarn, Passanten und Händler. Der Junge fährt nach Teheran! rief einer aus dem Pulk zurück: Er wird die Schule besuchen, die Schule der Franken! Franken, farangihâ , nennen die Iraner bis heute die Menschen aus dem Westen. Der verstorbene Norouz Ali Gomaschteh hob ihn auf die Kutsche. Rasch verstaute der Junge das Gepäck und suchte sich einen Platz. Da saß er nun, es sollte noch dauern, bis die Kutsche abfuhr, um ihn herum alle Verwandten in Tränen, so schien es ihm, am lautesten die Schluchzer der Mutter. »Und was soll ich es Ihnen verbergen?« schreibt Großvater in seiner Erinnerungen, die leider nie gedruckt wurden. »Obwohl es mein eigener

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