Dein Name
Gruà s.« Geburt, Hochzeit, Umzug nach Deutschland, neuer Lebensabschnitt, alles in drei Kurzmitteilungen â soviel Dramen pro Anschlag gelingen nicht einmal den Büchern auf den Tischen, auf die es die Romane des Nachbarn nie schaffen. WüÃte er, wer Hanna-Zoe ist, würden sich die grob geschätzt hundertfünfzig Buchstaben in eine Geschichte verwandeln, die ihn nicht nur berührt, sondern beinhaltet. Es muà gar nicht das Baby sein. Eine Nachricht von Sabine, Tanja oder Lars-Uwe würde schon genügen, und er träte in eines der Leben, die sich ihm unbeabsichtigt 150 Buchstaben weit öffnen. Er stöÃt auf den Gedanken, wie blitzartig sich eine in deine Mitteilung verwandeln kann, da ihn gestern die Mail eines Tierarztes erreichte, der die Lesung in Basel besucht hatte. Die Lesung war so grauenhaft, wie Lesungen in Messehallen nur sein können, in denen die Leute kommen, gehen, quatschen, lachen, während gleichzeitig vom Romanschreiber erwartet wird, sich in Gestalt des Romans zu entblöÃen, den er doch in völliger Einsamkeit schrieb, grauenhaft, ohne zum Desaster auszuarten, weil der Romanschreiber nur geringfügig mehr als hundertfünfzig Buchstaben las und es beim Reden inzwischen versteht, sich herauszuhalten. Der Tierarzt hatte noch nie etwas von ihm gelesen, nicht einmal den Namen je gehört, hatte nur die zweizeilige Inhaltsangabe im Programm der Basler Buchmesse interessant genug gefunden, um bei dem Auftritt mitten im Publikum zu sitzen, nicht am Rand oder stehend wie die Passanten, die nur schnuppern wollen, um bei dem ersten unverstandenen Satz weiterzuschlendern, als die Moderatorin die Widmung ansprach und der Romanschreiber erklärte, in welchem Verhältnis er zu Claudia Fenner gestanden und wie ihn ihr Tod berührt habe (und wie nicht). Der Tierarzt aus Basel war Claudia Fenners Klassenkamerad aus Samedan und sprach den Romanschreiber nach dem Signieren an. Sie setzten sich, nicht lange, denn der Romanschreiber muÃte noch zum Verleger, zum Radiointerview, sein Honorar abholen und dann rasch in den Zug nach Köln, aber lange genug, um die Erschütterung wahrzunehmen, die sie teilten. Der Romanschreiber kann sich kaum mehr erinnern, wie der Tierarzt aussah, so schnell ging alles vorüber. Als ihr Klassenkamerad hatte er das Alter von Claudia Fenner, Anfang Vierzig, dunkelblonde oder braune Haare, unscheinbare Kleidung, ernsthaft, sehr freundlich, ein Suchender, kein Vielredner, das war klar, oder vielleicht hatte es ihm wie dem Nachbarn nur die Sprache verschlagen. »Ich muss Ihnen diese Zeilen schreiben, die Situation in der ich mich damals explosionsartig befand, nachdem ich verstand, dass die SMS in Ihrem Roman zum Tode von Claudia Fenner geschrieben wurde, hat mich nachhaltig bewegt. Im Moment war ich sprachlos, tief ergriffen, dem Alltag entrückt, da auch ich haderte, damals, als ich von Claudias Tod erfuhr, ich nicht wusste ob ich ihre Mutter anrufen soll oder nicht, habe mich dann mit Bekannten welche Claudia ebenfalls kannten über ihren Tod unterhalten, um mich zu orientieren, was alles nichts brachte, da auch sie überfordert waren, wie ich. Und nun schreibt ein mir bis dahin unbekannter Schriftsteller genau dies nieder, fantastisch, Sie können sich kaum vorstellen was dies in mir auslöste. Diese Situation ist kein Zufall, nein, sie bedeutet mehr, dringt tief in mein Empfinden ein. Wenn es Spiritualität gibt, dann habe ich sie in diesem Moment erlebt.« Der Tierarzt schreibt dann über seine Leseeindrücke, bietet an, den Kontakt zur Mutter herzustellen, die noch immer in dem Haus wohne, in dem Claudia Fenner aufgewachsen sei, und schlieÃt mit folgendem Absatz: »Ich hätte noch vieles zu sagen, zu fragen, und ich würde es sehr schön finden wenn wir uns irgendwann einmal darüber unterhalten könnten, bei einem Kaffee oder einem Glas Wein. Wenn Sie ebenso empfinden lassen Sie es mich wissen, sollten Sie wieder einmal in Basel sein, möchte ich Sie auf jeden Fall gerne und aufrichtig bei mir einladen.« Ja, er empfindet ebenso, vielleicht aus Professionalität nicht so intensiv wie Sie, aber er weiÃ, was Sie meinen. Die Romane Ihrer Landsmännin Ruth Schweikert handeln davon, wie uns manchmal das Glück zuteil wird, ein kurzes Stück der Fäden zu sehen, mit denen alles mit allem verbunden ist. Ohne den Glauben an diese Fäden, das sagte in anderen Worten Martin
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