Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
Vom Netzwerk:
irritierte den Gärtner, ohne daß er es zu fassen vermochte. Es dauerte Minuten, bis er bemerkte, daß die Blumenhalle fehlte. Sie war unter dem Schnee eingebrochen, ohne Klirren. Der Gärtner sagt, daß er vor der nichtvorhandenen Blumenhalle auf die Knie gefallen sei und geheult habe, ungelogen geheult. Als sei es ein Trost – es ist das Gegenteil –, rezitiert der Kunde auch die zweite Strophe. Wie dieser nach vorne stürmende, dahinrauschende Gang in den späten Gedichten abbricht (was man bei Hölderlin so spät nennt), wie er einhält, wie nur noch die Zehenspitzen den Boden berühren, als sei jedes Wort eines zuviel, nur so, als würde man markieren, was eigentlich gesagt werden müßte, aber nicht mehr zu sagen ist, ist dem Städter beinah zum Gebet geworden. »Überhaupt wandelt das Wortlose in einem guten Gedicht umher wie in Homers Schlachten die nur von wenigen gesehenen Götter«, sagt es Klopstock besonders schön, in der »Hälfte des Lebens« etwa die unnatürliche, den Sprechfluß störende Häufung starker Betonungen dadurch, daß einzelne Wörter isoliert, aus dem Satz gleichsam herausgehoben werden. Ist das von Ihnen? fragt der Gärtner, der am ersten Weihnachtstag vor der verschwundenen Blumenhalle knieend heulte. Nein, zweihundert Jahre alt, sagt der Städter, der sich immer noch nicht entscheiden kann, ob mit oder ohne sieben zusätzliche Reihen.
    Auf der Fahrt zum iranischen Konsulat in Frankfurt erzählte die Mutter von ihrer Kindheit, von Großvater und Urgroßvater, von der Selberlebensbeschreibung ihrer Tante oder Großtante Bibi Khanum, die sie gerade liest, alles interessant, genau die Geschichten, von denen der Sohn nie satt wird. Dennoch kann er sich an kaum eine erinnern, so sehr setzte ihm der Gehirnbohrer der Migräne zu, der wie ein BMW klang, nur ohne Auspuff, ein Horror jede Beschleunigung und die vielen Steigungen auf der A3 . Die Kilometeranzeige auf dem Navigator bewegte sich in Zeitlupe, bewegte sich genaugenommen gar nicht, so wollte der Sohn jedesmal schon meinen, bevor es doch ein Kilometer weniger war bis zum Bestimmungsort, wie der Navigator selbst das iranische Konsulat in Frankfurt metaphysisch auflädt. Als ihm auch noch schwindelig wurde, bog der Sohn auf einen Parkplatz ein. Wie er die Verhandlungen im Konsulat bestehen sollte, um die Pässe zu erneuern, Kennkarten zu beantragen und die Frühgeborene zu registrieren, wie die Wut beherrschen, die ihn sicher überkommen würde, erschien ihm rätselhafter als sagen wir das weibliche Wesen. Die Mutter empfahl mit der üblichen Übertreibung – bei deinem Vater sind die Schmerzen jedesmal wie weggeblasen – eine Kopfmassage. Aus Erschöpfung willigte der Sohn ein, der ihren Empfehlungen sonst prinzipiell nicht folgt, setzte sich auf eine Parkbank und ließ sich von hinten den Schädel und den Nacken vielleicht fünfzehn Minuten lang bei geschlossenen Augen kräftig kneten. Die Lkw-Fahrer schmunzelten über das seltsame Bild, Mutter und Sohn, die sich zärtlich zugetan sind, obschon die Berührung so zärtlich nicht war. Sag, wenn es zu fest ist, sagte die Mutter. Anschließend zog der Sohn sich ins Auto zurück, um bei weniger Lärm als auf der Parkbank die Augen noch ein paar Minuten geschlossen zu halten. Tatsächlich schlief er ein, für drei, vier Minuten nur, wie die Mutter anschließend berichtete. Als sie wieder auf die Autobahn einscherten, gab der Sohn zu, daß die Migräne, nun ja, nicht wie weggeblasen sei, aber das Dröhnen tatsächlich nachzulassen scheine, und das machte den Sohn viel glücklicher, als wenn er ohne Schmerzen losgefahren wäre, die simple Logik der Relation, wie zwischen dem 3. und 6. August 1801. Das Konsulat macht einen ganz anderen Eindruck als früher, ein modernes, beinah avantgardistisches Gebäude mit einer schrägen Längswand aus Glas, Nummern, die man für jeden Schalter zieht, damit es nicht mehr zum Gedränge kommt, überhaupt einer effizienten Organisation, die bis hin zum Briefmarkenautomaten, Paßbildautomaten, Kaffeeautomaten, Kopierautomaten und dem kostenlosen Wasserspender die weiterhin sehr bürokratische Prozedur – es sind nun einmal Vorschriften – so angenehm wie möglich zu gestalten versucht. Vermutlich während des kurzen Teheraner Frühlings hat sich ein Minister in Teheran, ein

Weitere Kostenlose Bücher