Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
Vom Netzwerk:
Filmindustrie sind oder gar des späteren Pop. Schon wegen ihrer Ungewohntheit, ihrer Herkunft aus fremd gewordener Zeit ist das Schöne daran noch schön, hätte es sich doch durch die bloße Wiederholung verbraucht. Damals in Iran, als diese Lieder Gassenhauer waren, hätte der jüngste vermutlich Elvis Presley gehört, um sich zu unterscheiden. Erst von heute aus fällt mir ihre Originalität als Klangbild einer eigenständigen iranischen Moderne auf, fällt auf, wie anders sie klingen als westliche Populärmusik der fünfziger Jahre, anders als die deutsche sowieso, aber auch nicht französisch, amerikanisch oder arabisch, zugleich anders als die alte iranische Volksmusik. Die Lieder sind städtisch, bürgerlich, oft lasziv, sehr melancholisch, selbst die Freude traurig, werden von Geigen untermalt, die den westlichen Orchesterklang orientalisch verzerren – das sind wohl die berühmten Zwischentöne –, auch Pauken, Bläser hingegen selten und mehr als Kuriosum, elektrische Gitarren durchaus, von den traditionellen persischen Instrumenten am ehesten noch das Santur, das Entsprechende zum deutschen Hackbrett, große oder kleine Ensembles, bei denen die Männer bestimmt nicht wie heute die iranischen Musiker in der Kölner Philharmonie affige Folkloreverschnitte trugen, sondern Frack und Fliege, und die Sängerinnen hatten lange Kleider an und müssen hinreißend ausgesehen haben, selbst wenn sie in Wirklichkeit kugelrund waren und ein Meter fünfundvierzig. Obzwar die Musiker auf den Konzerten aussehen wie Portiers im ägyptischen Fünf-Sterne Resort, bin ich nicht grundsätzlich gegen die neue iranische Musik, die wegen des Unterhaltungsverbots die klassischen Formen wiederbelebt hat. Iran dürfte heute über mehr Meister auch des alten Sinns verfügen als vor der Revolution und viele junge Talente, die auf den alten Wegen schreiten, um sie sinnvoller zu verändern als nur durch schriftliche Partituren westlichen Stils oder den Einsatz von Beats. Wozu es noch viele Jahre braucht, bevor es in ganz anderer Weise wiederkehren kann, ist die originäre iranische Populärmusik, in der es anzüglich oder romantisch zuging, die zum Tanzen war oder zum Weinen. Die Angehörigen reden nicht, als sie an Dollenberg vorbeifahren, schon die ganze Strecke nicht, die Anfangsbesetzung mit der Mutter, dem Internisten und dem Jüngsten, können immerhin zum ersten Mal Musik hören, seit der Vater operiert worden ist, vielleicht auch nur persische Chansons der Fünfziger plus minus einem Jahrzehnt. Von außen betrachtet, ist die Situation weiterhin fragil, aber wie Leute, die beinah verdorrt wären, haben sie jeden Tropfen Erleichterung aufgeschlürft, den der Tag im Herzzentrum ihnen reichte. Als der Internist vorhin ans Bett trat, erklärte er wie bei einer Lagebesprechung die Zahlenreihen im Patientenbuch, das auf einem Brett am Bettgeländer klemmte, die Kurven und Diagramme auf den Bildschirmen, die Funktionen der verschiedenen Schläuche, so daß der Jüngste selbst schon seine Schlüsse zog und auf offene Flanken hinweisen konnte in dem Krieg, der der eigene wurde auf Zuruf eines Arztes.
    In der Schule zirkulierte ein Schreiben aus Amerika, in dem der Sohn des Religionsstifters Bahaóllah, Abbas Abdolbaha, den baldigen Weltfrieden prognostizierte. Wolf und Schaf würden aus einer Quelle trinken und alle Menschen eine gemeinsame Sprache sprechen, Esperanto, das die Bahais im Aufenthaltsraum vor den Schlafzimmern mit großem Eifer lernten. Großvater bedauert es, den Brief nicht aufbewahrt zu haben, den er für ein historisches Dokument hält; Ketzergeschichte, würden die Mullahs sagen. Die Bahais unter den Verwandten und Bekannten, die er nach dem Brief Abdolbahas fragte, antworteten, daß ihre Väter den Brief der Gemeinde übergeben hätten und er dort unter Verschluß liege. Großvater regt sich darüber ein wenig auf, vielleicht auch, weil er selbst zum Schluß Zeugnis ablegen wollte: Wieso enthalte man die Zeugnisse des eigenen Lebens und der eigenen Gemeinschaft seinen Kindern vor und verhindere ihre Veröffentlichung? Wenn Hedayatollah seine religiösen Führer aufsuchte – zwei der Zentren wurden von Amerikanerinnen geleitet, Frau Doktor Ludy und Frau Doktor Clark, wenn ich die Namen richtig rücktranskribiere –, überredete er oft Großvater und einen

Weitere Kostenlose Bücher