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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Sarkasmus faßte Hilberg 2006 auf der Berliner Antisemitismus-Konferenz in dem einen Wort zusammen: »heikel«.
    Als er 1948 anfing, fühlte er sich schon nach den ersten Recherchen erschlagen, nicht so sehr von der schieren Menge oder Grausamkeit der Dokumente, denn damit war zu rechnen gewesen bei einem Vernichtungsunternehmen solchen Ausmaßes, vielmehr von der Unübersichtlichkeit. Das Problem war – wieder fielen 2006 in Berlin die Mundwinkel nach unten, als beschwerte Hilberg sich über die mangelhafte Systematik der Nationalsozialisten –, daß für die Judenfrage keine eigene Behörde existierte. Alle deutschen Behörden waren involviert gewesen, vom Außenministerium bis zur Post, von der Reichsbahn bis zum Reichsforstamt; selbst die Archive der städtischen Leihanstalten hatte Hilberg durchforsten müssen, weil sie die Menge an Wertgegenständen dokumentierten, die aus dem Besitz von Juden »angekauft« worden waren. Das städtische Gartenamt von Lemberg lieferte laut einem Vermerk Pflanzen zur Tarnung eines Zwangsarbeitslagers. Die Allianz-Versicherung versicherte laut einer Akte die Zwangsarbeitslager in den Bezirken Lublin und Galizien. Im Bezirk Bialtystock holte sich die Wehrmacht die Erlaubnis für Flieger abgeschossener deutscher Jagdflugzeuge ein, in einem Wald Jagd auf Juden zu machen, damit sie, also die Flieger, ihr seelisches Gleichgewicht wiedererlangten. Judenfragen wurden meist routinemäßig neben anderen Angelegenheiten behandelt und fanden sich entsprechend verstreut in allen Arten von Beständen. Aktenordner, auf denen nur »Juden« stand, fand Hilberg selten vor.
    Â»Viele Jahre vergingen in dieser Einsamkeit, aber dann wurde daraus ein weltweites Anliegen.« Vor jedem Atemzug senkte sich die Melodie seiner Stimme tief, als sänge er ein trauriges Lied. Für jede einzelne Silbe ließ er sich Zeit und legte zudem lange, beinah dramatisch wirkende Pausen zwischen den Sätzen ein, oft zwischen den Satzteilen, ließ dabei keine Sekunde das Publikum aus den Augen, der Blick wanderte nach links und rechts, weil auf dem Pult ohnehin kein Manuskript lag. Dennoch sprach er druckreif, mit leichtem amerikanischem Akzent und wenigen Fehlern, etwa »entschlossen« anstelle von »beschlossen«, »Der Führer hat entschlossen«. Ein bißchen kurios sah er ja aus mit der übergroßen, viereckigen Brille, der Körper schon beim Gang zum Pult leicht zur Seite geneigt, das unübersehbare Hörgerät schräg nach oben, als wollte er signalisieren: Nein, nein, meine Damen und Herren, ich bin zwar alt, schon an die Achtzig, aber glauben Sie bloß nicht, ich bekomme nicht mehr alles mit. Verbotene Erinnerung heißt sein Buch im Untertitel. Das stimmt nicht mehr, sagte Hilberg. Das habe 1961 gestimmt, als Columbia und Princeton eine Veröffentlichung ablehnten. Selbst Yad Vashem lehnte ab, weil sie in Jerusalem meinten, alles besser zu wissen. Hilberg fand weder in Europa noch in den Vereinigten Staaten einen Verlag, nur solche, die für die Veröffentlichung Geld nahmen. Erst mit dem Eichmann-Prozeß begann man, sich für den Holocaust zu interessieren, 1978 dann endgültig in den Staaten, ab 1985 in Deutschland. 2006 in Berlin war Hilberg der Ehrengast.
    Am Abend zuvor, als wir gemeinsam ins Restaurant, und am Morgen, als wir zur Konferenz fuhren, hatte er nicht einmal die Begrüßung erwidert. Auch seinen Vortrag begann er ohne Anrede. Nach dem Vortrag wußte ich, daß es Wichtigeres gab. Um zu verstehen, was getan worden ist, mußte er sich in die versetzen, die es taten, etwa: Die Juden in den Ghettos konnte man doch nicht einfach sich selbst überlassen. »Etwas muß doch geschehen.« Hilberg ahmte im Präsens nach, wie die Nazis die realen Konsequenzen ihrer anfangs noch fixen Idee hin- und herwogen, die Juden zu beseitigen, schließlich gab es kein Modell, kein Vorläuferunternehmen; wie sie überlegten, was Beseitigung denn im Konkreten heißt, etwa die Erwägung, die Juden nach Madagaskar zu verfrachten. Er würde die gesamte Marine mobilisieren, nur um die Juden loszuwerden, sagte Hitler laut Protokoll, aber dann würden die Briten die deutsche Flotte torpedieren. Hilberg sprach bis in den mutmaßlichen Tonfall jemanden nach, der Hitler nachsprach: »Er dächte jetzt über manches anders, nicht freundlicher.« Im Osten diskutierten die Offiziere

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