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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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erfahren, was er zu Teheran 06 sagte, aber er hat mich ja nicht einmal begrüßt. Er hatte recht, daß es Wichtigeres gab.
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    Als der Internist heute vormittag mit der Krankenschwester stritt – er wollte verhindern, daß der Vater wieder »abgeschossen« wird, wie die Blaugewandeten die Ruhigstellung nennen –, fiel dem Jüngsten auf, daß sie die ganze Zeit von »Durchgangssyndrom« sprachen, nicht von Ȇbergangssyndrom«, wie er es sich der Engel wegen die ganze Zeit eingebildet hatte. Zurück in Köln, lieferte die Suchmaschine 19.660 Ergebnisse, darunter einen eigenen Beitrag auf Wikipedia : »Der Begriff Durchgangssyndrom bezeichnet in der Humanmedizin eine zeitlich begrenzte und zugleich reversible organische Psychose. Es wird auch synonym der Begriff des organischen Psychosyndroms, der Funktionspsychose oder in der Chirurgie des postoperativen Verwirrtheitszustandes benutzt. Eine Störung des Bewußtseins tritt hierbei nicht auf. Die entsprechenden Symptome bilden sich innerhalb von Stunden oder Tagen zurück (daher Durchgangssyndrom genannt). Das Durchgangssyndrom ist bei älteren Menschen deutlich häufiger zu beobachten.« Der Vater wird kein Gespenst bleiben, jetzt will es der Sohn endlich glauben.
    Großvater fragte den Chefredakteur der Zeitung Raad nach einer Anstellung. Ohne von seinem Blatt aufzusehen, murmelte der Chefredakteur, der nur ein paar Jahre älter war und das Gewand eines Geistlichen trug: Wenn du einen brauchbaren Artikel aus der Times oder dem Observer findest, kannst du ihn ja mal übersetzen, mein Junge. Noch am selben Tag kaufte Großvater einen Stoß englischer Zeitungen und machte sich an die Arbeit. Wenige Tage später klopfte er wieder an der Redaktion, zehn, zwanzig Seiten mit Übersetzungen in der Hand. – Leg das Zeug dort in die Ecke, mein Junge, murmelte der Chefredakteur. Aus der Fachliteratur erfuhr ich, daß Raad (»Donner«) die ebenso prominente wie umstrittene Zeitung des jungen Intellektuellen Seyyed Zia Tabatatabaí war, der später beim Sturz des Kadscharenkönigs die Fäden zog, Premierminister wurde, sich mit dem Kosakenführer und späteren Schah Reza Pahlewi überwarf und ins Exil flüchtete. Im Unterschied zu den anderen Teheraner Zeitungen, die während des Ersten Weltkriegs mit Deutschland sympathisierten, weil Deutschland gegen die beiden Kolonialmächte England und Rußland kämpfte, war Raad für seine pro-britische Position bekannt. Manche meinten gar, daß die meisten Artikel, die Raad veröffentlichte, direkt von der britischen Botschaft geliefert würden. Großvater erklärt nicht, warum er unter allen Zeitungen Teherans ausgerechnet bei dieser anklopfte, schildert nicht das Treiben in der Redaktion, geht mit keinem Wort auf die politische Situation in Iran während des Ersten Weltkriegs ein, die dramatisch gewesen sein muß, nennt nicht einmal den Namen Seyyed Zias, der ihn »mein Junge« nannte, sondern erwähnt nur, daß er jeden Morgen herrgottsfrüh vor der Druckerei wartete, um die Zeitung zu kaufen und sie auf dem Bürgersteig hektisch durchzublättern. Als er Wochen später seinen ersten Artikel entdeckte – was heißt Artikel?, Seyyed Zia hatte einen umfänglichen Essay von Bertrand Arthur William Russell über den Pazifismus auf eine Meldung von fünf Zeilen gekürzt, um einen freien Platz am unteren Rand einer Spalte irgendwo im Innenteil zu füllen –, freute sich Großvater, als habe er soeben sein erstes Buch veröffentlicht. Noch am selben Tag nahm er sich den nächsten Stoß englischer Zeitungen vor. Bis zum Ende seiner Teheraner Zeit belieferte er Seyyed Zia mit seinen Übersetzungen, obwohl das Honorar von zehn Dinar pro Abdruck den Ausdruck Brotberuf allzu wörtlich nahm – ein Tschelo-Kabab kostete zwei Rial, also zweihundert Dinar. Geld verdiente Großvater zunächst, indem er an der französischen St.-Louis-Schule Arabisch und Englisch unterrichtete. Anschließend arbeitete er als Übersetzer an der britischen Botschaft – bis ihn sein Vorgesetzter beten sah. – Ich dachte, Sie sind Bahai, zog der britische Diplomat Großvater beiseite. – Nein, ich bin Muslim, antwortete Großvater. – Aber Ihre Freunde sind doch Bahais. – Ja, aber ich nicht. – Jetzt kommen Sie schon, vor mir brauchen Sie sich nicht zu verstellen. Der

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