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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Leinwand starre, die meinen Blick beengt, stehe ich bei Jean Paul auf einer weiten Ebene, auf der ringsum alles mögliche verstreut liegt, das Höchste und das Niederste, Philosophie und Neunmalkluges, Poetik und Alltagsbeobachtungen, ohne daß die Seiten einer inneren Notwendigkeit zu folgen scheinen, die begreifbarer wäre als die Logik eines jeden Lebens selbst. Die Gesetzmäßigkeiten, Notwendigkeiten und Korrespondenzen, die sich dann doch entschlüsseln, sind so tröstend, wenngleich unzuverlässig wie in dem Bild, das ein religiöser Mensch von der Welt hat. Jean Pauls Romane bersten aus einem Übermaß an Einfällen und Vorfällen, ein Strang legt sich in den anderen, die Verwicklungen jagen sich gegenseitig. Selbst dem Kindler , in den ich beim Lesen immer wieder schaue,merkt man die Mühe an, die Übersicht zu behalten. Zugleich verstärken die Schneisen, die die Zusammenfassung in das Handlungsgestrüpp schlägt, den Verdacht, daß Jean Paul gerade der Ehrgeiz getrieben haben könnte, Übersicht unmöglich zu machen. Jean Paul selbst bestätigt mal mehr, mal weniger deutlich, daß er loswird, was er ohnehin loswerden werden wollte, aufgreift, was immer ihm gerade vor die Augen tritt, unabhängig von literarischer Form, Thema, Gattung, Höhe. Die herrlich frivolen Extrablätter über die Notwendigkeit des Ehebruchs oder von Kirchenlogen, in denen man während des Gottesdienstes nicht nur »schlafen, pissen, essen«, sondern sich auch mit seinen Freundinnen vergnügen kann, stünden als satirische Zeitstücke für sich genauso brillant da und brauchen die Geschichte sowenig wie die Geschichte sie – aber als ob bei einem Menschen alles zusammenpassen würde und seine Wege immer wohin führten. Er habe heute vorgehabt, beginnt Jean Paul in der Unsichtbaren Loge den sogenannten achtunddreißigsten oder Neujahr-Sektor, also das achtunddreißigste Kapitel, das er an Neujahr schreibt oder vorgibt, an Neujahr zu schreiben, er habe heute vorgehabt, einen Spaß zu machen und seine Biographie einen gedruckten Neujahrswunsch an den Leser zu nennen und statt der üblichen Neujahrswünsche scherzhafte Neujahrsflüche zu tun und dergleichen mehr. Aber der Romanschreiber, der sich Jean Paul nennt, hat an diesem Neujahrstag zu schlechte Laune, um sich einen Spaß zu machen: »Ich kann nicht und werd’ es überhaupt bald nicht gar nicht mehr können. Welches plumpe ausgebrannte Herz müssen die Menschen haben, welche im Angesichte des ersten Tages, der sie unter 364 andre gebückte, ernste, klagende und zerrinnende hineinführet, die tobende schreiende Freude der Tiere dem weichen stillen und ans Weinen grenzenden Vergnügen des Menschen vorzuziehen imstande sind!« Die Geschichte scheint nur ein Rahmen zu sein, wie Gott die Woche, den Monat und das Jahr dem Menschen zum Rahmen gibt, damit sie ihrem Leben eine notdürftige Ordnung geben, ein Rahmen, in den Jean Paul stellt, was er gerade zu sagen hat, einschließlich des Eingeständnisses, daß die Geschichte nicht mehr ist als der Rahmen, in den er stellt, was er, Jean Paul persönlich, der eins zu sein vorgibt mit dem Romanschreiber, gerade zu sagen hat.

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    Raul Hilberg (2. Juni 1926 Wien; 4. August 2007, Williston, Vermont) ( Bildnachweis )

Als Raul Hilberg nach dem Weltkrieg anfing, die Vernichtung der europäischen Juden zu erforschen, hätte er sich nicht vorgestellt, sechzig Jahre später in Berlin als Ehrengast vor sechshundert Menschen, viel Prominenz und internationaler Presse eine Holocaust-Konferenz zu eröffnen. Wer kann sich als Zwanzigjähriger überhaupt vorstellen, wo er als Achtzigjähriger steht? Hilbergs Verblüffung war konkreter: Unmittelbar nach dem Krieg habe sich niemand für den Holocaust interessiert, sagte er, schon gar nicht die Juden. Als junger Mann habe er gedacht, ganz allein gewesen zu sein. Später stellte sich heraus, daß in Paris und London noch zwei Forscher begonnen hatten, nach Dokumenten zu suchen. Es war eine mühsame Recherche. Nicht nur waren viele Unterlagen verschwunden oder vernichtet, sie waren auch »heikel«. Bei dem Adjektiv zog Hilberg die Mundwinkel, die ohnehin herabhingen, bis beinah zum Kinn nach unten. Die Hände blieben in den Hosentaschen, weil sich angesichts des Forschungsgegenstands jeder persönliche Triumph verbot. Verachtung, Zorn, Empörung,

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