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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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der Vereinigten Arabischen Emirate überstellt, oder genau gesagt haben die Amerikaner den Hinweis gegeben, damit er vor der Botschaft verhaftet und nach Iran ausgeliefert werden konnte. Die Botschafterin, die Madjid Kawussifar zuvor persönlich empfangen haben soll, heißt Michele J. Sison, um ihren Namen schon einmal festgehalten zu haben. Möge Gott auch sie mit Alpträumen strafen. Möge Madjid Kawussifar ihr, uns, allen im Gedächtnis bleiben.
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    Er sagt sich immer und sagt der Älteren, die ihn zum zweiten Mal begleitete, daß es dem Vater doch wirklich bessergehe als beim letzten Besuch; heute konnten sie ihn bereits für kurze Zeit in einen Stuhl setzen, auch wachsen in seinem Bewußtsein die Schnittmengen mit der Gegenwart der Angehörigen, soweit sie es seinen mimischen Antworten und den wenigen Sätzen entnehmen, die sie verstehen. Die Bilder, von denen der Sohn nachts aufschreckt und die tagsüber nicht verschwinden, sind die einer weiterhin bohrend kläglichen Person unter einer Sauerstoffmaske, mit Oberschenkeln so dünn wie die hungernder Kinder in Afrika und einer Art Saugglocke überm Geschlecht. »So einer ist ein wüst gewordenes Land, das in ursprünglicher üppiger Fruchtbarkeit die Wirkungen des Sonnenlichts zu sehr verstärket, und darum dürre wird«, schreibt Hölderlin Ende 1803 in den Anmerkungen zur Antigonä . Klar ist allerdings auch, daß seine Gedichte, um ihn zu finden, all die Jahre sein Fühlen und Verzweifeln verneinen mußten, daß auch er sterben mußte, bevor er starb, klar sind die Gründe für die unverschämte Lebenshälfte nach dem Aufprall, Beine, Arme, Rücken noch immer gestreckt wie zum Stechschritt, aber, weil gebrochen, in tausend krummen Winkeln, verwinkelt dero unterthänigster Skardanelli oder Buarotti, der jedermann mit »Euer Majestät«, »Euer Heiligkeit«, »gnädigster Herr Pater«, »gnädigster Herr Baron« anredet, wenn nicht gar als »Mylord des Nachbars Pudel«. Ich werde nicht der erste sein, dem es auffällt, aber die groteske Gespreiztheit im Turm scheint mir, wenn ich durch die Zeugnisse seines Lebens gehe, offenkundig in den Briefen vorgeprägt zu sein, die er der Mutter schickt oder der Schwester. Von Jahr zu Jahr eklatanter ist in ihnen das Aufrechterhalten dessen, was für Form gehalten wird, während er gleichzeitig zusieht und am Leibe spürt, wie sich seine Existenz in Luft auflöst, nein, in die Luft gesprengt wird ausgerechnet von jenem Irdischen, auf das er so wenig gab, die gleiche, wenngleich noch nicht vollends absurd gewordene Unterwürfigkeit der Worte, die allem reellen Verhalten widerspricht und von den Realien nicht aufgeklärt werden kann, vielleicht von den Religionen: »Als Mose nun zu seiner Frist kam«, heißt es in Sure 7,143, »Und mit ihm redete sein Herr, / Sprach er: mein Herr, laß mich Dich sehen und schauen. / Er sprach: Du siehest nimmer Mich; / Doch schau zum Berg hin! Steht er fest an seinem Ort, / Alsdann sollst du Mich sehen. Als nun / Sich zeigete sein Herr dem Berge, / Macht’ Er ihn trümmern, und zu Boden / Stürzte Mose getroffen wie vom Blitze.« Der Sohn zog das Nachthemd rasch nach unten, als er eintrat, damit der Älteren wenigstens dieses Bild ihres Großvaters erspart bliebe; aus der Perspektive der Enkel auch dieser ein Oberhaupt der Sippe, geht dem Sohn auf, dem ins Gehirn gebrannt ist, wie sein eigener Großvater sich auf dem Stuhl in die Hose macht und die Tante ihm Pyjamahose und Unterhose auszieht, um ihn zu waschen. Sein Großvater hat nicht geklagt, er hat nur geweint, so wie dem Sohn jetzt noch die Tränen in die Augen steigen, in dieser Minute, Montag, 13. August 2007, 2:49 Uhr, da er sich in seinem Büro erinnert. Vermutlich sind es zugleich die Tränen, die er sich im St. Marien verdrückte. Vor einem Monat war der Elende noch der Vater, den der Sohn ein Leben lang kannte. Der Sohn war noch nie zärtlich zum Vater. Der Vater war zärtlich, als der Sohn krank lag oder zum Höhepunkt des pubertären Konflikts einen Nervenzusammenbruch erlitt. Immer hat der Vater den Sohn in den Arm genommen, nicht der Sohn den Vater. Der Vater hat den Sohn getröstet, nicht der Sohn den Vater. Der Vater hat dem Sohn die Arme und Füße massiert, nicht der Sohn dem Vater. Der Vater hat den Sohn gemahnt, Obst zu essen, Medizin zu studieren wie die

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