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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Hausboot, das einheimische Freunde empfohlen haben. Es ist tatsächlich sauber und komfortabel, im britisch-kolonialen Stil wie alle achthundert schwimmenden Pensionen Srinagars, schwere, dunkle Möbel, Orientteppiche, breite Sessel, allerdings auf indische Touristen ausgerichtet, nicht auf westliche, weil nahe an der Stadt, wo der Dal-See nicht breiter als ein Fluß ist. Das versprochene Erleben von Stille, Weite und den schneebedeckten Bergen, die sich im Wasser spiegeln, fällt daher weniger majestätisch aus. Der Berichterstatter blickt auf Autos und Rikschas, mehrgeschossige Bürogebäude aus unverputztem Beton sowie einen Hügel mit einer Fernsehantenne darauf. Für Inder scheinen die fünfzig oder hundert Meter Abstand, die sie vom Straßenlärm haben, mehr als genug zu sein. Er hingegen war gegen alle Vorsätze leicht enttäuscht, zumal die Abende auf der Bootsveranda so kalt sind, daß er sich zum Schreiben ins Zimmer unter die Bettdecke verkriecht. Mehr und mehr entdeckt er jedoch die Vorteile der Situation, in die er geraten ist. Das Boot gehört einer alteingesessenen Familie, von deren zweiunddreißig Mitgliedern immer einer genau das besorgen kann, was er gerade braucht, das ganze Spektrum an Meinungen, Forderungen und Wünschen, das Srinagar bietet, ebenso einen Fahrer, Umbuchungen oder eine SIM -Karte fürs Mobiltelefon. Die indische Karte funktioniert aus Sicherheitsgründen nicht. Um eine neue Prepaidkarte zu kaufen, braucht man einen festen Wohnsitz und die Bewilligung der Armee. Nun muß die Nichte des Bootsherrn ein paar Tage auf ihr Handy verzichten. Viel scheint sie nicht zu telefonieren, wenigstens sind außer den mitgelieferten Servicenummern mit Kurzwahl keine Kontakte gespeichert, Astro Tel , Dial A Cab , Dua (Gebet), Flori Tel , Food Tel , Hello Tune , Horoscope , Info Tel , Movie Tel , Mukh Vak (?), Music Online , News , Odd Jobs , Ringtones , Shop OnLine , Travel Tel , Weather . Für eine Stadt im Krieg, in der abends kaum eine Straßenlaterne brennt, sind das erstaunliche Möglichkeiten. Nach beinahe zwanzig Jahren hat sich Kaschmir längst eingerichtet im Ausnahmezustand. Die Teilung des indischen Subkontinents hat viele Wunden gerissen, eine Millionen Menschen, die starben, sieben Millionen, die ihre Heimat aufgeben mußten. Kaschmir ist die eine Wunde, die sich nie zu schließen scheint, ausgerechnet Kaschmir, das Himmlische, dessen Gletscher, Seen und Wiesen leider nicht nur die Dichter und Reisenden verzückten. Seit dem vierzehnten Jahrhundert hatte das Tal fremde Herrscher, die es eroberten, ausbeuteten und es gern auch verschacherten. Nach dem Rückzug der Briten 1947 fiel der größere Teil der Provinz trotz seiner überwiegend muslimischen Bevölkerung an Indien, der Westen an Pakistan, ein Streifen im Nordosten später an China. Vor den Vereinten Nationen verpflichtete Indien sich auf ein Plebiszit, in dem die Kaschmiris selbst über ihr Schicksal entscheiden sollten. Dazu ist es jedoch nie gekommen, statt dessen zu drei Kriegen mit Pakistan. Immerhin gewährte Delhi der Provinz weitgehende Autonomie, doch nach einer Serie offenkundiger Fälschungen bei den Regionalwahlen brach 1989 ein bewaffneter Aufstand aus, der mittlerweile hunderttausend Menschen das Leben gekostet hat – bei einer Einwohnerzahl von fünf Millionen. Etwa sechshunderttausend Soldaten soll die indische Armee in der Provinz stationiert haben, die meisten im Kaschmir-Tal, das gerade einmal doppelt so groß ist wie das Saarland. Es gibt auf der ganzen Welt keine auch nur annähernd vergleichbare Präsenz von Streitkräften. Soldaten stehen überall, in allen Städten, in allen Dörfern, auf den Überlandstraßen genauso wie auf den Nebenstraßen, den Hauptstraßen, den Gassen und sogar den Feldwegen, noch auf den Feldern selbst und natürlich auf der gegenüberliegenden Uferpromenade, alle fünfzig Meter einer. Für die Inder ist es ein Krieg gegen den Terror. Für die Bevölkerung ist es Besatzung.
    Funklöcher unterbrechen jedes Telefonat in der Nähe einer militärischen Einrichtung, also auf einer Autofahrt alle drei Minuten. Ansonsten würde man, wenn nicht überall Soldaten stünden, tagsüber nicht merken, daß Srinagar sich im Krieg befindet. Ist das überhaupt noch Krieg? Die Armee selbst, die nicht dazu neigt, die Gefahr zu untertreiben, gibt die Zahl der

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