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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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fünfminütige Simultanübersetzung. Am Freitag, dem 19. Oktober 2007, ist es 7:31 Uhr auf seinem indischen Handy mit der kaschmirischen SIM -Karte, dessen Uhr ziemlich genau sein müßte. Wie schön, daß ihm der Bootsherr gerade eine Kanne mit süßem Jasmintee zubereitet.
    Fahrt nach Sokkur im Westen Kaschmirs, von wo Ahad Baba gerade nach Srinagar abgereist ist. Er hatte so eine Eingebung, wird dem Berichterstatter achselzuckend erklärt, als könne der Heilige morgen auf die Idee kommen, nach New York zu fliegen. Der Fahrer schlägt dem Berichterstatter vor, ihn zum Schrein des mittelalterlichen Mystikers Baba Schukur-e Din zu bringen, damit sie nicht umsonst zwei Stunden nach Westen gefahren sind. Daß die Islamisten sich in Kaschmir nicht durchgesetzt haben, liegt nicht nur an der Übermacht und Brutalität der indischen Armee. Es liegt auch daran, daß der Sufismus, den Großvater für die gottgemäße wie menschenfreundliche Ausprägung des Islam hielt, den Glauben der meisten Kaschmiris bis heute prägt. Der Schrein liegt auf einem Berg, der als Vorsprung des Himalaja in den Wularsee ragt, den höchstgelegenen See Südasiens. Auf dem Gipfel kommt alles zusammen, was Kaschmirs Kultur und Anziehung ausmacht, ein gewaltiges Erleben der Natur und der Religion, unterhalb des Schreins die riesige Wasserfläche wie ein grünblaues Ölgemälde, im Tal die prallen Wiesen und Wälder, ringsum die Gletscher, aus dem Schrein der Gesang eines berückend traurigen Chors. Wie andere auch tritt der Berichterstatter zunächst in eine kleine Moschee etwas abseits des eigentlichen Heiligtums. Als er nach dem Gebet herauskommt, singt der Chor nicht mehr. Er geht in den Schrein und ist verblüfft, keine Gruppe vorzufinden, die vorhin noch gesungen haben könnte. Nur ein junger Mann trägt im leisen Singsang etwas aus einem Diwan oder einem Gebetsbuch vor. In der schmucklosen Halle befinden sich vor allem junge Leute; die Jungen mit modischen Frisuren, die Mädchen in ihren bunten Saris, das Halstuch über den Kopf gelegt, jeder und jede für sich im Gebet, auch Kinder, einige greise Männer und Frauen, unterschiedliche Positionen, manche stehend, manche sitzend, manche hockend, zwei beim Ritualgebet. Andere Stimmen erheben sich, mischen sich in den Singsang, überall im Raum. Und plötzlich ist der Chor wieder da.
    Am Abend bittet die Familie des Ingenieurs aus Kalkutta zum Essen an den Tisch, während der Jüngling sich im Salon immer noch um die Schöne bemüht, aber morgen ist der Berichterstatter schon fort. Zum Jasmintee auf der Veranda ruft er den Musiker in München an. Djâ-ye to châliye , wie man auf persisch sagt: Dein Platz ist leer. – Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit ist mein Platz tatsächlich leer, meint der Musiker, der die Frage, wie es geht, mit dem üblichen hastim abtut: Wir sind. Sonst vermeidet der Berichterstatter die Frage, doch fällt ihm in der vier Stunden früheren Stille, die ihn nach der Begrüßung kalt erwischt, nichts anderes zu sagen ein. Bevor er sich deprimiert ins Bett legt, erreicht ihn drahtlos noch der zeitverschobene Auftrag, den Herausgeber der sämtlichen Werke, Briefe und Dokumente Hölderlins zu porträtieren, die er für 49,99 Euro zuzüglich Versandkosten bestellt hatte, während er FrAndrea33 idealere Orgasmen auf dem Perserteppich bereitete, als er es in Wirklichkeit je vermöchte. Der Redakteur ahnt nicht, daß das Schnäppchen dem Roman so viel bedeutet, den ich schreibe; da die aufgeschlagene Zeitung mit dem Absatz über Urlaub in Polen neben einer Verlagsankündigung lag, kam ihm nur die Idee, daß »jemand wie Sie, mit Ihrem Hintergrund, sich auch für diesen Himmelsstürmer interessieren müßte«, wie er den Herausgeber nannte. Weil die Abfolge von Wäschelisten und verworfenen Gedichten, Ausgabeverzeichnissen und Briefen, Namenlisten und philosophischen Gedanken der Unordnung seiner Tage entspricht, beginnt der Romanschreiber erst auf Seite 833 der Urschrift vorm Zubettgehen in Srinagar zu begreifen, was es mit dem Schnäppchen auf sich hat. Sie hingegen, die es nicht gibt (meint er in der Urschrift), falls es Sie gibt (hofft er während der Arbeit an einer lesbaren Fassung), die es geben wird (weiß er, als er die Veröffentlichung vorbereitet), die Leser und Leserinnen des Romans, den ich schreibe, dürften

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