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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Abschweifungen raube, und laut auflachen mußte ich im Großraumabteil, als Jean Paul während einer Abschweifung jammert, daß es ihm an Mut fehle, gelegentlich abzuschweifen, der Leser wolle schließlich eine Handlung oder wie immer Jean Paul es nannte, der Handlungsreisende holt doch jetzt nicht das Buch aus dem Trolley, um wie für eine Seminararbeit daraus abzuschreiben, im Großraumabteil, meinetwegen, in der S -Bahn hatten wir auch schon, aber nicht abends um elf auf dem Boden eines Gepäckwagens. Immer wieder staunte ich über die Brillanz seines Satzbaus, die Unermeßlichkeit seines Ausdrucksvermögens, über die in der deutschen Sprache kein anderer Prosaautor verfügt (und genau zur selben Zeit brachte die deutsche Dichtung Hölderlin hervor), den nie versiegenden Vorrat an Gleichnissen. Niemals sagt Jean Paul: eine Winterlandschaft, es müssen, Gott, jetzt holt der Handlungsreisende tatsächlich die Dünndruckausgabe aus dem Trolley und klemmt die markierte Seite aufgeschlagen unter den Laptop, der dadurch beim Tippen wackelt wie die Tischplatte des Schreiners, dem Gott ein langes Leben schenken möge, als die Frau sämtliche Werke, Briefe und Dokumente Hölderlins auf den Boden gewischt, es müssen etwa im Siebenkäs , da Firmian bei einem Spaziergang an einem Kinderbegräbnis vorbeikommt, zum Leichenbegängnis passend »die ausgekleideten Gefilde« sein, »über welche noch die Wiegendecke des Schnees und der Milchflor des Reifs geworfen werden mußte«, und »die Dezembersonne, die am Mittag so tief hereinhängt als die Juniussonne abends, breitet, wie angezündeter Spiritus, einen gelben Totenschein über die welken, bleichen Auen aus, und überall schlafen und ziehen, wie an einem Abende der Natur und des Jahrs, lange riesenhafte Schatten, gleichsam als nachgebliebene Trümmer und Aschenhaufen der ebenso langen Nächte. Hingegen der leuchtende Schnee überzieht nur, wie ein um einige Schuh hoher weißer Nebel, den blühenden Boden unter uns, der blaue Vorgrund des Frühlings, der reine dunkle Himmel, liegt über uns weit hinein, und die weiße Erde scheint uns ein weißer Mond zu sein, dessen blanke Eisfelder, sobald wir näher antreten, in dunkle wallende Blumenfelder zerfließen. Weh wurde dem traurigen Firmian auf der gelben Brandstätte der Natur ums Herz. Die täglich wiederkommende Stockung seines Herz- und Pulsschlages schien ihm jenes Stillestehen und Verstummen des Gewitterstürmers in der Brust zu sein, das ein nahes Ausdonnern und Zerrinnen der Gewitterwolke des Lebens ansagt.« Allein mit diesem Spaziergang, auf diesen paar Zeilen, in denen Firmian erst den Sarg eines Kindes, dann eine Landschaft erblickt, die beide, das Kind und die Landschaft, »aus dem Fötusschlummer in den Todesschlaf« übergehen, hat Jean Paul tiefer in die Schöpfung geblickt als alle Naturlyriker seiner Zeit, geht er zum Prediger zurück, nimmt er Beckett voraus, trifft er sich mit Hölderlin und ist vor allem ein Mystiker, der wie alle Mystiker in der Natur die eigene Seele erkennt, man denke nur … warum nicht auch an Agha Seyyed Abolhassan Tabnejad, die Pupille in der Himmelskugel und die Himmelskugel in der Pupille. Dabei muß ich gar nicht nach den markierten Stellen schauen, die zugleich so hell und dunkel wie Offenbarungen leuchten, es reicht, blind eine Seite aufzuschlagen, um wieder und wieder die Kunst Jean Pauls zu bewundern, die ihn dann doch über den Seyyed erhebt, der sich mit gewöhnlichen Blumen zufriedengab:»hinter den krystallenen Gebirgen loderte Morgenrot, von perlenden Regenbogen umhangen – auf den glimmernden Waldungen lagen statt der Tautropfen niedergefallene Sonnen, und um die Blumen hingen, wie fliegender Sommer, Nebelsterne«, und das ist nun, wie gesagt, eine ganz zufällige Stelle, krystallene Gebirge, perlende Regenbogen, glimmernde Waldungen, niedergefallene Sonnen, fliegender Sommer, alles in einem Satz, dazu Wörter wie lodern, Morgenrot, Tautropfen, Blumen, die Welt in ihrem Zeichencharakter wie im Alten Testament oder im Koran. Wenn ich weiterblättere, finde ich viel mehr Zeilen unterstrichen, als der Handlungsreisende in Erin… um 23:08 Uhr blicken die Mitreisenden zu ihm, der wieder das aufgeschlagene Buch unter den Laptop klemmt, als sei er der Streber aus ihrer früheren Schulklasse dreißig Jahre später, über ihm das

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