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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Fahrrad fällt auch gleich auf seinen Kopf … anrühren wie der Kuß der Neuvermählten, im Laufe dessen Siebenkäs und Lenette in dem Miniaturmaß, das Jean Paul anstrebt, denn doch zu dramatischen Helden anwachsen, zu großen Liebenden, deren späteres Unglück um so tragischer erscheint, obwohl es aus nichts als der Sprach- und Körperlosigkeit besteht, wie die Ehe des Handlungsreisenden manchmal auch. Erst drückt Siebenkäs schüchtern Lenettes Hand, drückt sie fester, wendet dann kühn sein Gesicht ihr zu, »zumal da er nichts sehen konnte«. So steht er da, verdattert, beschämt über seine eigene Unsicherheit, bis auf einmal »ein gleitender bebender Kuß über seinen Mund« hüpft, und »nun schlugen alle Flammen einer Liebe aus der weggewehten Asche auf«. Wie groß ist die Überraschung, die Überraschung auch des Lesers, daß nicht Siebenkäs, sondern Lenette den ersten Kuß gibt, da sie »so unschuldig wie ein Kind glaubte, es sei die Pflicht der Braut«. Was folgt, ist einer der längsten und am längsten beschriebenen Küsse der deutschen Literaturgeschichte und doch nur ein Detail, wie es im Siebenkäs zu Dutzenden, zu Hunderten aufblitzt, weshalb ich mir nicht recht erklären oder es nur den Umständen zuschreiben kann, warum der Handlungsreisende auf der Hinfahrt häufiger als sonst bei Jean Paul ermüdete, querlas, sich erneut festlas, den Romanweglegte, neu ansetzte. So ruckelte er sich durch die Dünndruckausgabe wie ein Nahverkehrszug durch eine zu weite Ebene, hatte sich längst an die Betulichkeit und ironische Tonlage gewöhnt, nur damit ihn um so unvermittelter und damit härter als bei der ersten Lektüre die Rede des toten Christus traf, die Jean Paul nicht nur zum »Blumenstück« deklariert, als sei es ein Stück Dekor, sondern mehrfach als Läuterung rechtfertigt und verharmlost: »Lasset uns sogar die dunklen peinlichen Träume als hebende Halbschatten der Wirklichkeit.« Und doch ist der Zweifel ausgesprochen, unverstellt, ein Zweifel, wie er nur den Gläubigen quälen kann, der einen Heiland erwarte: erst wenn dieser seine Verlassenheit bekannte, wäre keine Hoffnung mehr, könnte es keine Hoffnung mehr geben, nur »starres, stummes Nichts! Kalte, ewige Notwendigkeit! Wahnsinniger Zufall!« Zollbeamte sind im Abteil, haben sich den Orientalen, also nicht den Handlungsreisenden, sondern einen Araber oder Türken im karierten Anzug, mit langem beigefarbenen Mantel und Seitenscheitel herausgepickt, der sich als einziger der fünf Reisenden zu vornehm ist, auf dem Boden zu sitzen, durchsuchen sein Gepäck, befragen ihn, wo er war, ob er Bekannte in Deutschland, in der Schweiz hat, jetzt die sogenannte Leibesvisitation, genau vor dem Handlungsreisenden, während ein anderer Beamter mit dem Paß in der Hand Namen und Daten abgleicht. »Ist das neben mir noch ein Mensch? Du Armer! Euer kleines Leben ist der Seufzer der Natur oder nur sein Echo – ein Hohlspiegel wirft seine Strahlen in die Staubwolken aus Totenasche auf euere Erde hinab, und dann entsteht ihr bewölkten, wankenden Bilder. – Schaue hinunter in den Abgrund, über welchen Aschenwolken ziehen – Nebel voll Welten steigen aus dem Totenmeer, die Zukunft ist ein steigender Nebel, und die Gegenwart ist der fallende. – Erkennst du deine Erde?« Dabei sagt Jean Paul selbst – ich wette, er hat sich nicht daran gehalten, niemand tut es außer den Heiligen –, daß Besseres uns übrigbleibt als unnütze Seufzer auszustoßen, nämlich »eine wärmere, treuere, schönere Liebe gegen jede Seele, die wir noch nicht verloren haben«. Komisch, daß die Zöllner den Handlungsreisenden, der genauso orientalisch aussieht, noch nicht nach dem Paß gefragt haben. Vielleicht ist es der Laptop, vielleicht die coole Mütze, die der Moderator bei Basel ebenfalls lobte, vielleicht Jean Paul, der ihn als legal ausweist – dabei liest kaum ein Einheimischer mehr Jean Paul, er taucht, ich habe es nachgeprüft, in keinem Lehrplan und keinem einzigen der deutschen Mindestkanons auf. Ist das nicht eher ein Verdachtsmoment, liebe Zöllner? Sie müssen den Handlungsreisenden untersuchen, der auf dem Boden eines Gepäckwagenabteils Jean Paul unter den Laptop geklemmt hat, und bei der Gelegenheit bitte seine Festplatte durchleuchten, damit der Roman, den

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