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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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ich schreibe, doch noch einen Leser findet.
    â€“ Entweder bringen sie mich um oder ich sie! Mirza Abdolhossein achtet nicht mehr auf das Mittagessen, das vor ihm auf dem Tisch steht. – Was ist los? fragt sein Freund aus Isfahan. Der Kopf Mirza Abdolhosseins ist feuerrot, seine Hände zittern: Entweder bringen sie mich um oder ich sie! Der Freund aus Isfahan geht um den Tisch und setzt sich zu seinem Freund. – Laß mich, will der ihn abwimmeln: Heute werden entweder diese Kerle sterben oder ich. – Welche Kerle? – Die da drüben! Der Freund schaut über den Platz zum Schrein des Imam Askari, wo die Pilger ein und aus gehen. Fliegende Händler bieten ihre Waren an, Bettler stehen vorm Eingang, im Teehaus neben der Moschee spielen die Männer Backgammon. Es sieht aus wie immer. – Welche Kerle? fragt der Freund nochmals. – Die da! schreit Mirza Abdolhossein, als stünden dort die Mörder Imam Askaris persönlich. Endlich begreift der Freund, wen Mirza Abdolhossein meint: die Männer, die neben der Moschee, dem Schrein des Imams Askari, Backgammon spielen – was für ein Sakrileg! Der junge Mirza Abdolhossein, Sohn des berühmten Trauersängers, Nachfahre des Propheten, kann es nicht fassen. Vergebens beschwört der Freund ihn, sich zu beruhigen, sie seien fremd in dem Land, sie könnten keinen Ärger gebrauchen, was wolle er denn allein gegen die Überzahl der Frevler ausrichten, die noch dazu älter und kräftiger seien. – Entweder bringen sie mich um oder ich sie! Als Mirza Abdolhossein aufspringt und einen Stuhl in die Höhe stemmt, um wie Hossein in Kerbela die Überzahl der Frevler anzugreifen, die neben dem Schrein des Imam Askari Backgammon spielen, ruft der Freund seine iranischen Landsleute an den Nachbartischen zu Hilfe. Gemeinsam zerren sie Mirza Abdolhossein, der sich heftig wehrt, aus dem Restaurant, um ihn in Sicherheit zu bringen, fort vom gegenüberliegenden Teehaus. Wenn die Männer bemerken, daß sie mit den persischen Schimpftiraden gemeint sind, könnte es für alle Iraner brenzlig werden. – Diese Haut, dieses Fleisch und diese Knochen, schreit Mirza Abdolhossein immer weiter, sind Haut, Fleisch und Knochen jenes Gemarterten! Ich werde nicht tatenlos zusehen, daß man sich an seinem Grab, am hellichten Tag, in aller Öffentlichkeit dem Glücksspiel hingibt. Entweder bringen sie mich um oder ich sie! So wild schlägt er um sich, daß die Iraner zu viert Mühe haben, Mirza Abdolhossein fortzuschaffen. – Entweder bringen sie mich um oder ich sie! Schon haben sich einige Einheimische um sie versammelt und erkundigen sich, was los sei. – Nichts, nichts, ruft ihnen der Freund auf arabisch zu, und versucht, einigermaßen entspannt zu wirken. Es kann nicht lange dauern, bis auch die Männer im Teehaus auf den Rasenden aufmerksam werden. Was kann der Freund tun? – Abdolhossein, Abdolhossein, wir gehen zur Polizei! kreischt er plötzlich: Wir müssen den Frevel melden. Beeil dich, wir müssen sofort zur Polizei! Der Freund ist selbst von seinem Einfall überrascht und noch mehr, daß er funktioniert: Mirza Abdolhossein beruhigt sich, die Landsleute aus dem Restaurant können ihn loslassen, das Grüppchen der Einheimischen löst sich auf. Nur muß der Freund jetzt den vollen Mittagsteller stehenlassen, Mirza Abdolhossein zur Wache begleiten und Anzeige erstatten wegen – ja wegen was eigentlich?
    Eine Polizeiwache im eigentlichen Sinne existiert in Samarra nicht, erfahren die beiden jungen Isfahanis, sie sollen zur Kolonialverwaltung gehen, die sich als heruntergekommenes Lehmgebäude am Rande der Stadt herausstellt. Ein Polizist, der vor dem Eingang Wache hält, schickt sie ohne weitere Umstände in den ersten Stock, wo sie niemanden antreffen. Sie steigen eine weitere Treppe hinauf und klopfen wieder an alle Türen, bis im fünften und letzten Zimmer endlich jemand herein! ruft. Es ist ein älterer, glattrasierter Brite im Tropenanzug, der die beiden jungen Isfahanis freundlich begrüßt und sich nach ihrem Anliegen erkundigt. Die dichten, schneeweißen Haare sehen lustig aus zu dem rötlichen Gesicht, denkt der eine der beiden Isfahanis, der die Klage des anderen ins Englische übersetzt. Der Gouverneur hört genau zu, stellt auch einige Fragen und tritt dann auf den Balkon. – Ruf den Mufti, befiehlt er dem Polizisten, der unten

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