Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
Vom Netzwerk:
Bürgermeister wollte die gesamte Veranstaltung mit der Big Band der Musikschule und weiteren Rednern – dreieinhalb Stunden Programm – schon um eine Woche verschieben, weil der Festredner mit Magen-Darm-Grippe siechte, alle Plakate überkleben, Durchsagen im Lokalradio, da mußte der Festredner auf die Beine kommen, so schwankend auch immer. Die Frühgeborene und die Frau hat es ebenfalls erwischt, die Frühgeborene sogar für eine Nacht in der Klinik, sind Gott sei gepriesen bereits wieder obenauf. Ihn strecken die Infektionen seit einigen Jahren gleich für Tage, manchmal Wochen nieder, wofür die Ärzte, die ihn untersuchen, keine Erklärung finden. Im letzten Jahr blieb er verschont, eine Krankheit wäre gar nicht möglich gewesen, fällt ihm ein, und auch diesmal scheint es glimpflich zu verlaufen, nur den ersten Tag im Dauerdunst, am zweiten schon ein paar Löffel Hühnersuppe gegessen, in den Zeitungen geblättert, den Sportteil gelesen, abends wegen der Kopfschmerzen eine Runde um den Block gewagt, beim Zubinden der Schuhe den Rücken verhoben, das Geräusch laut wie ein Ast, der bricht, dann gestern am dritten Tag war schon nicht mehr die Schwäche das Hauptproblem, sondern der Rücken und mehr noch der Kopf, auf den permanent ein Balken zu prallen schien, also diesmal von außen, was auch eine Abwechslung ist, bis er nachmittags nicht mehr eins und eins zusammenzählen konnte; passabel hingegen der heutige vierte Tag, der Bestie von Schädel genügten bis jetzt drei Sensorenblocker als Jungfrauen, und die Furien von Schuhen hätte er sich am Morgen schon wieder selbst zubinden können, wenn er nicht ohnehin die Slipper angezogen hätte, um die Beine im Zug hochlegen zu können, wann immer sich die Gelegenheit ergeben würde. Vor ein paar Stunden sah es noch anders aus. Um Viertel nach zwei lag er wach, sah schon die schlaflose Nacht und damit die Übermüdung voraus, die er als Festredner überhaupt nicht gebrauchen konnte, doch war er diesmal klug genug, es nicht mit der Brechstange zu versuchen, die er zwischen den Beinen trägt, sondern den Kopf anzuwerfen, der gnadenweise nicht mehr weh tat. Daß bei Jean Paul zwei gegensätzliche Stilebenen ständig zueinander in Beziehung gesetzt werden, das Erhabene, Idealisierende und Verschrobene einerseits, das Niedrige, Nüchterne, Bodenständige andererseits, hat Jean Paul selbst, aber auch viele Germanisten dazu gebracht, Romane wie die Flegeljahre in die Tradition des Don Quijote und des humoristischen Romans zu stellen. Gestern nacht meinte ich noch eine andere Linie entdeckt zu haben, die von Jean Paul zu Cervantes führt (und damit andersrum zu Doderer und Mosebach, wie ich es wegen des verschütteten Tees nicht ausgeführt habe). Don Quijote steht ja nicht nur für den Ursprung des modernen Romans, sondern trägt zugleich die Züge älterer Erzählformen, des Epos und der Märchensammlung mit ihrer Rahmenhandlung. Der Anspruch an den Romanschreiber, daß jeder Abschnitt, jeder Gedanke an den davorliegenden anknüpfe, ist genausowenig zwingend wie die Erwartung an den Leser, daß er gleichzeitig nur eine Geschichte verfolge, eine Handlung, die Entwicklung einer Idee – oder auch nur am Anfang anfange. Die Wirklichkeit ist anders. In der Wirklichkeit fängt nichts an der richtigen Stelle an und bricht alles ohne Ende ab. Am wenigsten aber fügt sich der Tod ein, weder in das Leben noch in den Roman, den ich schreibe; er passiert prinzipiell zum falschen Zeitpunkt, und dann bricht erst einmal alles zusammen. Jeder müßte das selbst erlebt haben, der einmal um einen Liebsten trauerte, was der Romanschreiber erlebt, daß die Mitmenschen irgendwann, sagen wir im zweiten, dritten Monat zu verstehen geben, es müsse doch auch mal gut sein, und nach spätestens einem Jahr: Jetzt reiß dich zusammen, das Leben gehe weiter, der Tod gehöre zum Leben und so weiter, die ätzenden Argumente alle, mit denen Menschen seit jeher ihre Mitmenschen zusätzlich quälen, deren Leben nicht weitergeht, obwohl sie sich ja bemühen, kein Aufheben zu machen, das Zimmer des Liebsten aufräumen, seine Habseligkeiten ordnen und entsorgen, was unmöglich aufzubewahren ist, das Leben nicht weitergeht, nicht weitergeht, nicht weitergeht oder jedenfalls nie mehr, wie es sollte. Weit eher als ein konventioneller Roman von heute entspricht dem die

Weitere Kostenlose Bücher