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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Französisch. Auf den Nachbar wirkte es wie nach einem Zauberspruch oder der Grünen Wolke , die er dank der Älteren nochmals lesen darf: Simsalabim, die Weißen sind weg, dabei war der Nachbar für die Schwarzen genauso bleich wie die Freier, deren Arme zwei oder oft auch vier Schultern umfaßten. Die Gäste scheinen jenseits der Hauptstraße dieselben zu sein; auch einen Freier mit notorisch ausgebreiteten Armen sieht der ehemalige Nachbar, außerdem zwei typische Russen auf dem Sofa in der Ecke, die sich beim Bezahlen als Deutsche herausstellen. Er hört es, weil er auf dem einzigen Hocker sitzt, der an dem kurzen Stück Tresen Platz findet. Die Einrichtung hat der Wirt wieder original übernommen, diesmal allerdings nicht deutsche Eckkneipe, sondern ehemalige Eisdiele, so daß seine Kneipe nicht mehr nach dem Rhein, sondern nach Venedig benannt ist. Auf den Tisch kommt weiterhin, was in Zentralafrika als gutbürgerlich gelten dürfte, mitsamt den Plastikschüsseln unter den Tellern, Seife und Handtuch. Wenigstens sollte der Wirt die Glasvitrine entsorgen, in der Bierflaschen anstelle der Speiseeiskübel stehen, entsorgen oder meinetwegen umstellen und statt dessen den Tresen verlängern. Allein und damit wie ausgestellt fühlt sich der ehemalige Nachbar nicht mehr wohl am Tresen, obwohl alle Zentralafrikaner, die zum Bezahlen an die Kasse treten, ihn anlächeln oder fragen how do you do . Auch die stämmige Bedienung gibt durch Blicke zu verstehen, daß sie nichts gegen Fremde hat. Traurig darüber, daß Simsalabim nicht mehr oder jedenfalls dieses Mal nicht gelingt, überquert der ehemalige Nachbar die Hauptstraße und läuft nach manchen Umwegen, auf denen sich leider nichts in den Weg stellt, in die eigene Kneipe ein, wo er sich mit dem afghanischen Intellektuellen über Pakistan nach der Ermordung Benazir Bhuttos unterhält. – Was redet ihr schon wieder für ein Zeug in eurer Sprache? will der Wirt wissen, obwohl er einen Trinkspruch von Heimito von Doderer an die Tafel geschrieben hat: »Skurrilität ist ein immer noch kontrollierbarer Kompromiß zwischen der Narrenzelle und einer apperceptiv-offenen Form der Existenz.« Und ob Sie’s glauben oder nicht (es gibt Zeugen!), steigen der Nachbar, der sonst nicht viel sagt, und der afghanische Intellektuelle am 31. Dezember 2007 gegen drei Uhr auf ihre Barhocker und deklamieren abwechselnd persische und deutsche Sentenzen. Was sie deklamieren? Auf persisch muß es Hafis sein, weil der Name des Dichters am Ende des Gedichts vorkommt, so ein Vers wie »Ihr werdet’s nicht erleben, daß Hafis nüchtern wird, / Weil Trunkenheit seit ewig sein Acker ist und Pflug«. Auf deutsch geht Hafis’ wahrer Bruder im Geiste ab wie Urlaub in Polen : »Ist nicht heilig mein Herz, schöneren Lebens voll, / Seit ich liebe? warum achtet ihr mich mehr, / Da ich stolzer und wilder, / Wortreicher und leerer war?« Der Herausgeber wäre gerührt oder erbost gewesen, so viele Männer und wenige Frauen zu Hölderlin johlen zu hören wie auf einem Rockkonzert.

 
    Â 
    Wegen zwei Bemerkungen lag die Mutter bis zum Morgen wach, nachdem die Kinder und Enkel Weihnachten 2007 zu Besuch waren. – Das ist das Gläschen, das ich Ihnen ins St. Marien mitbrachte, hatte der Jüngste, der die Frühgeborene mit Brei aus dem Gläschen fütterte, bei Kaffee und Kuchen dem Vater gesagt, der neben ihm saß, Williamsbirne, Ihre erste Mahlzeit, die Sie dann doch nicht gegessen haben. Merkwürdigerweise hatten alle die Bemerkung gehört, obwohl es bei Kaffee und Kuchen so laut wie immer zugegangen war, wenn die Großfamilie um den konferenzgroßen Eßtisch in Siegen sitzt. – Erinnern Sie sich, Papa? hatte der Jüngste gefragt, ohne bereits die Stille registriert zu haben. Als dem Vater der Übergang zu Kartoffelpüree gelang, hatte er dem Jüngsten das Gläschen wieder mitgegeben, damit die Frühgeborene später daraus äße. Die Eltern mit ihrer Sparsamkeit, hatte der Jüngste geächzt, jedoch nicht widersprochen. Da seien alle Bilder zurückgekehrt, sagt die Mutter, als der Jüngste an Neujahr 2008 in ihrem Wohnzimmer sitzt, wie im Film auch die Krankheit seiner Frau, dann die bangen Monate der Schwangerschaft, die Frühgeborene in dem Glaskasten, der Unfall des Ophthalmologen während der reunion , der Vater im Herzzentrum. Der

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