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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Struktur des vormodernen Epos als einer Sammlung aus tausend Einzelgeschichten, die enden, während eine andere beginnt, und sich mehr, oft weniger geschmeidig in den Plot einfügen. Man merkt es daran, daß man als Leser beinah überall einsteigen kann, sofern man die Handlung in Grundzügen erfährt, wie man ja auch im Leben die Menschen nicht von ihrer Geburt an kennt, außer wie Gott die eigenen Geschöpfe. Dieses Erzählprinzip ist älter als der Don Quijote ; es manifestiert sich im Dekamaron , in der Göttlichen Komödie und natürlich in der literarischen Tradition des Orients und des Andalus, die Cervantes ebenso explizit aufgreift wie vor ihm Dante oder Boccaccio – und nach ihm Jena Paul: »Diesen romantischen Polyklets-Kanon und Dekalogus, dieses herrliche Linienblatt haben die meisten Deutschen entzweigerissen, und sogar in den Märchen von 1001 Nacht find’ ich die Allmacht des Zufalls schöner mit moralischen Mitteltinten verschmolzen als in unsern besten Romanen, und es ist ein großes Wunder, aber auch eine ebenso große Ehre, daß meine Biographien hierin ganz anders aussehen, nämlich viel besser.« Nicht zufällig nennt Jean Paul seine Romane gern Biographien, weil in Biographien nichts vorherzusehen ist. In einem Roman ist es unwahrscheinlich, daß sich auf Seite 200 etwas Gravierendes ereignet, was weder vorher noch nachher irgendeine Bedeutung hat. Im Leben geschieht es andauernd. Romane beruhen auf Wahrscheinlichkeiten, damit auf einer Ordnung. Die Wirklichkeit hingegen scheint voller Zufälle. Jean Pauls Romane behaupten, daß die Zufälle, die für den Romanschreiber und die anderen Figuren keine Struktur ergeben, sich für den Leser zu einer Ordnung fügen. Darin sind sie ein religiöses Unterfangen. Der Roman, den ich schreibe, behauptet, daß die Zufälle, die für den Romanschreiber und die anderen Figuren keine Struktur ergeben, sich für den Leser zu einer Ordnung fügen. Darin ist er ein religiöses Unterfangen. In wenigen Minuten erreichen wir Ulm Hauptbahnhof.
    Heute, nein, inzwischen gestern, am 10. Januar 2008, rief der Herausgeber an, als der Leser aus dem Fitneßstudio trat, wo er sich zur Probe wöchentlich zweimal mit Hanteln, auf dem Laufband und unter Geräten gegen den Verfall stemmt. Die Stimme klang völlig normal und deshalb völlig überraschend, etwas unsicher wie die des Lesers. Dessen Vorschlag, ihn am 1. Februar auf dem Dorf zu besuchen, nahm der Herausgeber an, ohne im Kalender nachzusehen. Er sei ja jeden Tag da. Außer der Telefonnummer des Herausgebers, die er für sich behalten möge, erfuhr der Leser am 10. Januar 2007, daß Monsieur K-L-T doch noch Ärger bekam, als die Persepolis in den Hafen von Buschher zurückkehrte, hatte sich doch seine Begeisterung für die iranische Gastfreundschaft in der Zwischenzeit bis zum belgischen Zolldirektor herumgesprochen, einen Mann von großer Gewissenhaftigkeit. Überhaut war Monsieur K-L-T die Ausnahme und die Mehrheit der belgischen Zöllner überaus korrekt, betont Großvater. Für die Belgier sprach außerdem, daß sie die Briten nicht leiden konnten, die am Persischen Golf nach Öl bohrten und in Buschher durch einen arroganten Konsul vertreten wurden. Die zwei Anekdoten, die von der belgisch-britischen Rivalität erzählen, muß ich überspringen, da die Seite bei der Abschrift offenbar vergessen und handschriftlich nachgetragen wurde, somit schwer zu entziffern ist für jemanden, der in Europa aufwuchs. Soweit ich erkenne, entgeht der neueren iranischen Geschichtsschreibung nicht viel, wenn der Enkel also statt dessen den zweiten Anruf erwähnt, der ihn heute erreichte, kaum hatte der Herausgeber aufgelegt: Der Redakteur, der auf den hinteren Seiten des Feuilletons oder in der Wochenendbeilage gelegentlich Absätze aus dem Roman veröffentlicht, den ich schreibe, fragte, ob er die Begegnung der Heraustretenden mit den Wartenden, die in der Urschrift bereits stattfand, »Vor dem Kino« nennen dürfe, obwohl ein Text von Robert Walser so heißt. Das wäre ein Kompliment, antwortete der Romanschreiber und erkundigte sich, wo der Text zu finden sei, worauf der Redakteur sich die Mühe machte, die Seiten zu kopieren und als PDF -Datei zu mailen. Anders als der Romanschreiber wartete Walser nicht auf den Einlaß, sondern auf »mein Töchterchen, oder wer sie sein

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