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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Soldaten lang, denen es nicht gelingen wollte, gleichzeitig zu schießen, obwohl ihr Kommandant wild mit den Armen herumfuchtelte und buchstäblich bis zur Besinnungslosigkeit brüllte. Weil die Wachleute, die Großvater gar nicht Soldaten nennen will, alle unterschiedliche Gewehre hatten, klang zu allem Überfluß jeder Schuß auch noch verschieden. Manche der ausländischen Trauergäste fingen an zu lachen, während sich die Gefühlvollen unter den Iranern, zu denen Großvater mit Sicherheit zählte, für ihre sogenannte Kaiserliche Armee in Grund und Boden schämten, deren Kommandant von Doktor P-Y-R P-U-N-I-T versorgt werden mußte. Monsieur Carlier wurde dennoch begraben und ein Nachfolger nach Bandar Lengeh geschickt, diesmal ein Brite, der nach kurzer Zeit ebenfalls starb, ohne daß die Kaiserliche Armee Irans zu schießen gelernt hatte. Vielleicht auch aus Sorge, einen weiteren Europäer ins Grab zu bringen, wählte der Direktor dieses Mal einen Iraner aus, die Zollbehörde im klimatisch besonders strapaziösen Bandar Lengeh zu vertreten: meinen Großvater. In einer streichholzschachtelgroßen Kiste erwartete ihn dort die Erweckung.
    Die Website, auf die gleich der erste Eintrag der Suchmaschine leitet, scheint alles zu dokumentieren, was jemals öffentlich über den Herausgeber gesagt oder geschrieben worden ist, unzählige PDF -Dateien mit Besprechungen, Radiointerviews und Briefen aus vier Jahrzehnten, allein der Lebenslauf, den ich in eine Worddatei kopiere, um ihn gleich unterm Bett oder morgen im Flugzeug zu lesen, einundzwanzig engbedruckte Seiten lang. Auf die Schnelle sehe ich, daß er der versammelten Kulturpresse Deutschlands nicht einmal einen Schulabschluß vorweisen konnte, später hölderniske Absage an alle Brotberufe, um sich ganz und gar Hölderlin zu verschreiben, will in den siebziger Jahren von Geheimdiensten beschattet worden sein. »Wenn er seine etlichen guten Entdeckungen und Argumente wenigstens halbwegs kommunikabel und ruhig herausbrächte«, stöhnt ein Rezensent der 143 Briefe, die der Herausgeber als einen Verzweiflungsschrei veröffentlicht, »Höhlensystem von vielfach unlesbaren Fußnoten, sich stellenweise steigernd bis zu dem absoluten Irrsinn von Anmerkungen zu Anmerkungen.« An anderer Stelle heißt es noch höhnischer, der Herausgeber mache noch eine Anmerkung, wenn er einfach Gute Nacht sage oder sich zum Niesen anschicke. Daß die Korrespondenz, die der Herausgeber bis einschließlich 2002 auf seiner Website vollständig dokumentiert (und seither? bin ich sofort besorgt), kein günstiges Licht auf ihn wirft, nimmt er hin, da seine Eitelkeit zwar immens, seine Gewissenhaftigkeit aber noch größer zu sein scheint. »dieser brief wird im internet veröffentlicht, das gleiche würde für Deine antwort gelten«, teilt er einem früheren Assistenten am Ende einer seitenlangen Tirade mit und bemüht zur Rechtfertigung diesmal nicht Adorno, den er bereits ausführlich zitiert hat: »edition ist öffentliche sache, demgemäß gilt für mich Kants am schluß des entwurfs ›Zum ewigen Frieden‹ stehende formel des öffentlichen rechts: ›Alle auf das Recht anderer Menschen bezogenen Handlungen, deren Maxime sich nicht mit Publizität verträgt, sind unrecht.‹« Der Assistent, inzwischen Professor in Basel geworden, fertigt den Herausgeber mit einer kurzen Antwort ab, die absolut souverän ist: »Am Freitag erhielt ich Deinen langen Brief, der schon vorher als ein offner auf Deiner Hölderlin-Website zu lesen war. / Die Unterstellungen, mit denen Du mich konfrontierst, sind absurd: Es kann keine Rede davon sein, dass ich in irgend einer Weise eine andere Hölderlin-Ausgabe in Deinem Verlag oder sonstwo zwischenhandle, ich pflege keine Lizentiaten ›vorzuschicken‹ und ich treffe mich auch nicht zu ›verheimlichten Projekten‹ in Italien. Mach Dich doch nicht lächerlich. / Ferner habe ich kein Bedürfnis danach, in Form eines offenen Briefwechsels nach Deinen Diskursvorgaben über die Hölderlinedition zu debattieren. / Im übrigen herzlich wie immer«. Überwirft sich mit allen, die ihn je unterstützten, bis zu dem Punkt, daß ehemalige Mitarbeiter sogar öffentlich Tribunal halten (auch der eben noch so souveräne Assistent so gehässig, daß man schon deshalb Partei für den

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