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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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böse, die Arbeit ist zuviel, das Geld zu knapp, man muß das verstehen. Aber auch in diesem Gespräch, wie in so vielen im Krieg, gelangt der Nachbar rasch an den Punkt, an dem auch sein Gegenüber nicht mehr versteht. Der Unterarm war blau angelaufen, sie krempelten den Ärmel hoch, da stellte sich heraus, daß die Schwester nach der letzten Spritze die Schnur vergessen hatte, mit der die Arterie abgebunden war. Der junge Arzt, seit vierundzwanzig Stunden im Dienst und selbst mit den Nerven am Ende, entschuldigte sich in aller Form. Was wünscht man zum Abschied? Mit »Kraft« versucht es der Nachbar, anschließend mit der Frage, ob es falsch sei, Besserung zu wünschen. Genau dies ist die eigentliche, die allgemeine Erfahrung von Transzendenz, nicht Verzückung religiöser, ästhetischer oder sexueller Art, sondern auf der Autobahn zu fahren, einkaufen zu gehen und nicht zu den anderen Handlungsreisenden und Wochenendeinkäufern zu gehören, weil die eigenen, täglichen Wege an einem Bett vorbeiführen, an dem man nicht mehr versteht. Man ist noch auf Erden und zugleich herauskatapultiert, das Natürlichste auf der Welt: Jeder hat seine Tüte mit Todesfällen zu tragen. Jeder wird selber in der Tüte landen und erwartet, daß ein anderer sie trägt. Freitag abend gingen die Eltern des Nachbarn nach Jahren oder Jahrzehnten zusammen ins Kino. Danach wollten sie zum Abendessen erstmals wieder die Treppen zu seiner Wohnung steigen. Seit die Elektronik runderneuert wurde, funktioniert die Klingel nicht, so daß der Sohn am Hoftor Wache schob. Nach einer halben Stunde lösten erst die Ältere, dann die Frau ihn ab. Nach einer Stunde kehrte die Frau niedergeschlagen zurück nach oben. Die Eltern hatten im Parkhaus des Kinos nicht mehr zu ihrem Wagen gefunden. Außerdem hatte der Film den Vater überfordert, ein Melodram aus Hollywood über den afghanischen Krieg. Er verträgt keine Melodramen mehr, weder auf der Leinwand noch im Parkhaus. Die Vorstellung, wie seine Eltern sich Freitag abends im Parkhaus eines Multiplex-Kinos verlaufen, die jungen, fröhlichen Leute in ihren Autos frisch aus der Waschstraße, die den Kopf schütteln über die verwirrten Alten, schnürte dem Sohn das Herz zu. Der Vater hatte nicht geweint, als er gemeinsam mit der Mutter vor dem Hoftor stand, sie waren nur beide aufgelöst gewesen und wollten, mußten nach Hause, berichtete die Frau. Daß der Sohn ihnen nachfuhr, hat sie nach der ebenso deutlichen wie deprimierenden Erkenntnis, die der Abend den Eltern brachte, ein wenig getröstet, wie sie noch heute morgen mehrfach versicherten. Die Frage, die über den Roman hinausgeht, den ich schreibe: ob der Absatz einen Zusammenhang ergibt, also die Nacht neben der Direktrice mit Hölderlin 1797, den Eltern im Parkhaus oder dem unbekannten Herrn, der dreiundzwanzig Stunden am Tag ohne Zuwendung des Personals mit zwei Todgeweihten im Zimmer liegt, links der röchelt, rechts der hat den ersetzt, der schon gestorben ist – einen Zusammenhang selbst mit diesen. Die Voraussetzung, um eine Antwort zu erhalten: daß er keinen herstellt. Er fuhr weiter zu einem vierzigstem Geburtstag, auf dem er sich die meiste Zeit mit einem Schulfreund unterhielt, dessen Mutter vor zwei, drei Jahren in Siegen gestorben war. Ja, der Romanschreiber hatte eine Absicht, die er allerdings sofort aufgab, als er sie bemerkte. So erfuhr er nicht, wann genau die Mutter gestorben war, und erhielt der Roman, den ich schreibe, kein neues Kapitel. Der Schulfreund erwähnte nur, daß die Beerdigung, zu der er wegen eines Unfalls auf der Autobahn verspätet eintraf, an einem Apriltag stattfand, aber nicht das Jahr, erwähnte nur Hamburg, wo ihn die Nachricht erreichte, als er nach einer Besprechung oder einem Seminar den Anrufbeantworter abhörte. Die Mitarbeiterin, die zuerst nicht verstand, warum man wegen des Tods seiner Mutter so heult, organisierte die Rückreise. Der Romanschreiber schämte sich zu fragen, um den April welchen Jahres es sich handelte. Selbst in seinem Alter sollte man nicht am nächsten Morgen zwei Einkäufer auf hundert Metern treffen, deren Eltern sterben. Vielleicht lud er deshalb die Direktrice ins Büro ein, stellt der Nachbar einen Zusammenhang her, der weder erlaubt ist noch ihn entschuldigt.
    Großvater freute sich über die Berufung und fürchtete sich noch mehr. Er war jung und anders

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