Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
Vom Netzwerk:
dahin. / Unsere Zeit hauchen wir aus wie ein Aufstöhnen, / das ist alles. / Unser Leben dauert vielleicht siebzig / Jahre, wenn es hochkommt, sind es achtzig. / Noch das schönste daran ist / nichts als Schmerz. / Das Leben ist kurz und schmerzlich. / Einmal das Dorf hinauf und hinunter: / so sind wir unterwegs.« Klingt wie Stadler, bemerkte der jüngere Kollege, nachdem er die Verse aus dem neunzigsten Psalm vorgelesen hatte. Sie sollten klingen wie ich, antwortete Stadler sinngemäß, er habe sie nicht übersetzt, sondern sich anverwandelt. Von Dörfern ist im Hebräischen nicht die Rede, auch in keiner anderen Übersetzung stehen sie. – Das sind Ihre Dörfer, die Sie in die Bibel gebaut haben, die wirklichen und die erfundenen, Rast, Meßkirch, Fleckviehgau, Schwackenreute, Sauldorf. Stadler spielte noch das Lied vor, das er sich für sein Begräbnis wünscht, einen italienischen Schlager aus den Sechzigern oder Siebzigern. Seine Liebe zu alten südländischen Schnulzen ist ganz ernst und entspricht dem Sehnsuchtsmotiv seiner Bücher, Herzschmerz, der sich selbst durchschaut, ohne deswegen aus der Welt zu sein. Für den Fall, daß es sonst niemand weiß, notierte sich der jüngere Kollege den Titel des Schlagers. Nicht vorgelesen hat er, wie der neunzigste Psalm fortfährt: »Lehre uns unsere Tage zählen, / daraus werden wir gescheit – / und unser Herz wird weise.«
    Erst fangen einige Leute – er kennt sie, ohne an der Jagd selbst beteiligt zu sein – einen Hund ein, der eingeschläfert werden muß. Der Hund läuft auf ein Feld, an Strommasten vorbei, ohne Chance. Die Leute fürchten keine Sekunde, daß ihnen der Hund entwischen könnte. Daß sie ihn einschläfern müssen, tut ihnen leid. Daß sie die Frühgeborene einschläfern müssen, bringt die Eltern buchstäblich um den Verstand. Sie halten sie im Arm, und einer der beiden, wer?, sticht die Spritze ins Becken, warum ins Becken?, und drückt ab. Es gibt keine Wahl, sie müssen es tun. Erst ist der Vater noch ruhig, steht unter Schock oder versucht sich vielleicht nur zu beherrschen, denn er ist es, jetzt sehe ich es, er ist es, der das Gift in das Becken der Frühgeborenen spritzt, warum ins Becken?, denn danach nimmt er sie der Frau aus dem Arm und schreit, schreit so laut, wie er nur kann, so laut, daß er sich nach dem Erwachen noch hört, hat die Frühgeborene auf dem Arm, ihren Kopf auf seiner Schulter, am Hinterkopf seine rechte Hand und schreit, schreit, bis er endlich merkt, daß er noch geschlafen hat, und sich immer noch hört. Mit Abraham war es nicht anders, wenn man Gott als Schicksal nimmt. Auch er wachte auf. Ich glaube nicht, daß er deswegen versöhnt war, wohl aber fürchtete er Gott. Im zweiten Traum erlitt er einen Herzinfarkt oder ähnliches. Es verläuft glimpflich, wird frühzeitig erkannt, glaube ich, die Ärzte wirken gelöst. Natürlich macht sich die Familie Sorgen, freut sich zugleich, daß alles noch gutging. Es kann kein wirklicher Infarkt sein, eher ein Schwächeanfall und der Befund, daß etwas mit seinem Herzen nicht stimmt. Wie er das Schreien noch im Ohr hat, wirkt auch die Unsicherheit nach, sich nicht mehr auf die selbstverständlichste Funktion seines Körpers, den Pulsschlag, verlassen zu können.
    Obwohl er ausreichend Whisky getrunken haben dürfte, starb Monsieur Carlier, der dem Zollamt von Bandar Lengeh vorstand. Um sie zu bestatten, wurde die Leiche nach Buschher gebracht, wo die belgischen und iranischen Kollegen sowie sämtliche Amts- und Würdenträger der Region das letzte Geleit gaben. Die Eskorte des britischen Konsuls – dreißig indische Soldaten mit strengem Blick – schoß Salut. In jener Zeit konnte von einer iranischen Armee nicht ernsthaft die Rede sein. Was als Kaiserliche Armee firmierte, waren einige Wachleute in Uniform, und es wurde nicht klar, wer ihnen den Befehl erteilt hatte, ebenfalls einen Salut zu versuchen, der Gouverneur oder der Bürgermeister. Das Ergebnis sah kümmerlich aus und hörte sich noch erbärmlicher an. Erst schoß der eine und merkte, daß er zu früh war, dann der andere, der sich wunderte, daß der erste schon geschossen hatte, und wieder der nächste, der vollends verwirrt war, bis der vierte verstand, daß er nun wohl auch schießen müsse, und so ging es weiter, fünfzehn

Weitere Kostenlose Bücher