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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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als seine Vorgänger kein Europäer. Einen Heimvorteil hatte er wiederum auch nicht, denn Bandar Lengeh muß für ihn damals exotischer gewesen sein als sagen wir Paris, die Bevölkerung arabisch, sunnitisch und selbst für einen Isfahani extrem konservativ: Noch heute ist Bandar Lengeh eine der wenigen iranischen Städte, in denen Burkas zu sehen sind. Bis Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts hatte der weltumspannende Perlenhandel dort eines seiner Zentren, und noch zu Großvaters Zeit segelten mächtige Boote bis nach Indien, Jemen, Somalia und Kenia, um Sandelholz und andere Güter aufzuladen. Allerdings trat Großvater sein Amt an, als die Stadt schon vom Niedergang erfaßt worden war. Japanische Zuchtperlen hatten den Weltmarkt überschwemmt, und durch den aufkommenden Ölboom und den Ausbau anderer iranischer Hafenstädte nahm die Bedeutung von Bandar Lengeh weiter ab. Als Reza Schah den Fernhandel durch hohe Handelszölle einschränkte, verloren die meisten Seeleute ihre Arbeit. Wahrscheinlich muß ich nicht mehr eigens hervorheben, daß Großvater nichts davon erwähnt und also mit keinem Wort auf den Umbruch eingeht, den er als Leiter des Zollamts doch aus nächster Nähe verfolgt haben muß, den Exodus der Händler, die Wut der stolzen Kapitäne, die Not der Bevölkerung, im Hafen die modernden Boote mit Masten so hoch wie sonst nirgends im Persischen Golf, das Siechtum jahrhundertealter Zünfte des Handels, des Schiffbaus, des Güterverkehrs. So ambivalent der Einzug der Moderne in Ländern wie Iran war – Bandar Lengeh hatte ausschließlich Verluste. Muß die Stadt mit ihrer internationalen Bevölkerung und der bizarren Architektur aus Hunderten, Tausenden Türmen, die den heißen Wind durch ein abkühlendes Rohrsystem in die Wohnräume leiten, auf Großvater geradezu mondän und futuristisch gewirkt haben, macht sie heute einen um so trostloseren Eindruck. Im Zentrum sind viele Lehmbauten eingestürzt oder durch billigen Beton ersetzt worden, so daß die natürliche Klimaanlage nicht mehr funktioniert. Temperaturen von 45 Grad bis weit in den November, eine Luftfeuchtigkeit von hundert Prozent, ständiger Wassermangel und fehlende Infrastruktur sorgen dafür, daß Bandar Lengeh eine der wenigen iranischen Städte ist, deren Bevölkerung sich im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts nicht vervielfachte. Ich nehme das jedenfalls an, denn heute hat Bandar Lengeh ganze zwanzigtausend Bewohner, und weniger können es in den zwanziger Jahren nach allem, was ich gelesen habe, nicht gewesen sein.
    Anstelle eines Beitrags zur Stadtgeschichte, den sein gelehrtester Freund erwartet und zugegeben auch ich interessanter gefunden hätte, schildert Großvater seine Furcht, dem Amt nicht gewachsen zu sein. Zum Glück traf er auf herzliche Mitarbeiter, die meisten Araber, die sich um ihren Chef wie um einen jungen Cousin kümmerten, Herrn Mirza Aziz zum Beispiel, der Lagerverwalter, Herrn Mirza Abdolmadjid Namazi, Taxator, oder Herrn Heydar Gorgin, dessen Funktion Großvater nicht nennt. Noch viele Jahre nach seiner Rückkehr stand er in Verbindung mit ihnen, doch nicht lange genug, wie er beklagt, um zu wissen, was aus ihnen wurde. Vom Bürgermeister, vom Freitagsprediger und von den anderen Honoratioren Bandar Lengehs hat er nicht einmal die Namen behalten. Bloß ihre Gesichter stünden ihm vor Augen, bedauert Großvater, ohne auszuführen, wie die Gesichter aussahen. Wie distanziert das Verhältnis der Bevölkerung zum Zentralstaat war, den er vertrat, läßt sich an dem Hinweis ablesen, daß der Freitagsprediger es trotz wiederholter Einladungen immer wieder hinausschob, Großvaters Besuch zu erwidern. Erst nannte der Freitagsprediger Termingründe, dann Unwohlsein, schließlich unerwartete Gäste, bevor er wieder mit Terminen anfing. Großvater ließ nicht locker und drängte darauf, zumindest den Grund für die Zurückhaltung zu erfahren. Schließlich gab der Freitagsprediger unter blumenreichen Entschuldigungen und Höflichkeitsbekundungen zu verstehen, daß er bei aller Sympathie für den jungen Leiter des Zollamts grundsätzlich nicht mit den Angestellten eines Staates privat verkehre, der schiitisch sei und daher unislamisch, Großvater möge das bitte nicht persönlich nehmen. Großvater beschwor den Freitagsprediger, sich mit eigenen Augen davon zu

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