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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Herausgeber ergreift), Abgesänge ehemals wohlmeinender Rezensenten, deren plötzliche Pfeile er ausnahmslos retournieren muß, online natürlich bis einschließlich 2002 (und seither, verdammt?), zugleich Ehemann seit über vierzig Jahren, der grundsätzlich nicht ohne Frau reist, wie er am Telefon sagt, als der Leser anruft, um den Herausgeber nach Rom einzuladen, aber eigentlich um noch einmal die Stimme zu hören, die auf der Website seit 2002 verstummt ist, ob sie gesund klingt, unverzagt, frisch. Ja, das tut sie.
    Beinah im Dunkeln, wie Jugendliche zum Ausziehen, dreht die Direktrice sich um, er sieht die Umrisse des Körpers, der sich schmaler anfühlt, als er meinte, sagt, sie sei so betrunken, nichts tun, was sie morgen bereut, du bist ja noch angezogen, sagt sie, aber auch nicht so betrunken, denkt er, wie sie angeblich ist. Kein Sex, hat sie gesagt, nein, kein Sex, war er für die Nacht erleichtert, dafür sind die Umrisse zu kostbar, kein Sex, wenn sie sich mit Trunkenheit herausreden können, nichts tun, was sie morgen bereuen, Zärtlichkeiten wie lang mit der eigenen Frau nicht mehr?, die Zehen, die Füße, die Waden, die Innenseite der Oberschenkel, der Rücken, der Hals, wie lang?, wenn überhaupt Hardcore, um noch Nerven zu kitzeln, aber nicht einmal mehr Hardcore, stillende Mütter, natürlich versteht er, die Hormone, jetzt im Zug, welcher Tag?, 14:16 Uhr auf dem Handy, 14:13 Uhr auf seiner Allmacht, die genauer sein dürfte, schon wieder Flugzeug verpaßt, Hexenschuß vorgetäuscht, kurieren Sie sich erst einmal aus, nein, nein, bis zur Lesung bin ich rechtzeitig da, Pflichtgefühl wie ein Deutscher, muß nur zum Orthopäden, spritzen lassen, die mitfühlenden Nachfragen zwangen ihn zu einer ganzen Geschichte, ja, das habe ich öfter, ja, mit Spritzen kriege ich es gewöhnlich in den Griff, was überhaupt nicht stimmt, weil er den Nerv rechts neben dem Brustwirbel gewöhnlich mit Opiaten betäubt, aber jetzt hatte er schon den Orthopäden erwähnt, mußte sich daher spritzen lassen und zugleich erklären, warum er dennoch zur Lesung kommen, nur später eintreffen würde, dabei hatte er ganz einfach am Körper der Direktrice verschlafen und dröhnt ihm in Wirklichkeit nur der Kopf, also doch betrunken gewesen, also doch nichts bereut, sie auch nicht? Das war schön mit dir, simst er um 14:01 Uhr, worauf er bis 14:22 Uhr noch keine Antwort erhält, dafür laut Fahrplan um 14:20 Uhr Ankunft in Hagen, wo die Regionalbahn nach Gießen über Lüdenscheid und Siegen trotz Verspätung noch erreicht wird. Solang er am Persischen Golf lebte, die restlichen vier Jahre, trank auch Großvater jeden Abend Whisky, wenngleich nur in der Breite seines Zeigefingers und mit viel Wasser vermischt. Die eine Hälfte trank er vor, die andere während des Essens. Warum eigentlich ist der Enkel den Weg von zu Hause ins Büro in entgegengesetzter Richtung gelaufen? Obwohl es sich gleichkommt, geht er doch gewöhnlich im Uhrzeigersinn um den Block, der mit der Pracht der Gründerjahre und den wahllos dazwischengestellten Zweckbauten der Nachkriegszeit auf fünf Hektar die Stadt architektonisch zusammenfaßt, mit den Verkehrsadern, die trotz der neugepflanzten Bäume nichts mehr von Alleen, und den Seitenstraßen, die ein Gesicht nur in den Karnevalsliedern, den Werken Kölner Schriftsteller und den Kneipengesprächen ihrer Bewohner haben. Der ihm mit einer Einkaufstüte entgegenkam, sagte, daß seine Mutter Krebs habe, überall Metastasen und Hoffnung nur wenig. Jeden Tag nach der Arbeit fährt er hundert Kilometer in einen Kurort, mit dem man nichts zu tun hat als den Tod, die Autobahn voller Firmenwagen, Sakkos am Rückfenster aufgehängt wie an einem Galgen, die gleichen prinzipiell unpassenden Anrufe auf dem Handy. Hundert Meter weiter – ist etwas mit seiner Ausstrahlung? – trifft der Nachbar einen anderen Einkäufer mit Tüte, dessen Vater, 82, mit schwerer Lungenentzündung im St. Vinzenz liegt, das man trotz des Namens und der Nähe vermeiden sollte, wie der Nachbar schon herausgefunden hatte, und der kennt nur die orthopädische Ambulanz. Dreiundzwanzig Stunden am Tag verbringt der Vater des zweiten Einkäufers ohne Zuwendung des Personals mit zwei Todgeweihten im Zimmer. Links der röchelt, rechts der hat den ersetzt, der schon gestorben ist. Niemand meint es

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