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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Wohnstube verlegt, das Leiden der Menschheit nicht im Krieg, im Hunger oder inmitten der Naturgewalten zeigt, sondern im denkbar ruhigsten Alltag zweier eigentlich sympathischer Eheleute, die von außen betrachtet so gut und schlecht zueinander passen wie andere Eheleute auch. Wenn Firmians und Lenettes Sessel der nachgelassene Misthaufen sind, worauf Hiob geduldet, sind es alle Klappstühle der Welt, das gewöhnlichste Leid als Anlaß menschlicher Selbstbehauptung, nicht der Demut, wie es die Theologen lehren, der ekelhaften Tränen, sondern des stolzen Zornes, der sich allerdings gerade noch rechtzeitig mildern solle, bevor du dich aufrichtetest »aus deinem Staub gegen ihn und sagen: ›Allmächtiger, ändere dich!‹« Selbst der Streit besteht eigentlich nicht aus Worten. Ein paar Sätze hier, ein paar Sätze dort, schon denken sich beide die Eskalation, ohne sie vollziehen zu müssen. Wenigstens die Onanie bei Schlaflosigkeit sollte der Mann sich abgewöhnen, es bringt ohnehin nichts, nur daß er vor dem Frühgebet noch duschen muß, das er heute pünktlich verrichten kann. Besser verbringt er den Rest der Nacht mit Jean Paul, in dessen Sätzen sowenig Gleichmaß existiert wie in seinen Romangefügen, nicht in der Tonstärke, nicht in der Satzlänge, nicht im Umfang der Wortgruppen, nicht im Tempo, nicht im Stil, nicht im Verhältnis der Satzteile oder Sätze zueinander. Weiter als es dem menschlichen Körper entspräche, liegen die Tongipfel auseinander, so daß der Atem in dem reichgegliederten Satzbau unnatürlich weite Wege gehen muß und dadurch die dazwischenliegenden Nebensätze zusammendrängt, zu einem Trommelfeuer beschleunigt, in dem alles gleichzeitig gesagt zu werden scheint. Max Kommerell machte gar Betonungen verschiedenen Rangs ausfindig, wobei die stärkeren, die schwächeren Betonungen herabsetzend, Nebenliegendes überragend, einander zurufen würden. Man spricht heute so schnell vom Sound, wenn Prosa ein bißchen Rhythmus hat – Jean Paul ist ein Konzert, in dem die Hauptsätze das Orchester, die Nebensätze das Solo sind. Durch einen einzigen Satzteil, um blind eine Seite aufzuschlagen, steht dem Leser eine ganze Generation in geradezu unangenehmer Plastizität vor Augen: »alte, in den Schminksalpeter eingepökelte Damen-Gesichter, denen aus dem Schiffsbruch ihres Lebens nichts geblieben war als ein hartes Brett, auf dem sie noch sitzen und herumfahren, nämlich der Spieltisch«. Mit Jean Paul folge ich einem Schriftsteller, dem es gelang, als erstem vielleicht, der Simultanität des Erlebens, die nur in ekstatischen Momenten sich auflöst, bis in die Sprachmelodie eine literarische Entsprechung zu geben, die das Gegenteil von Hölderlins Prosa ist. Wenn diese auch sprachlich etwas Schwebendes, Gleitendes, Gleichmäßiges hat, überträgt Jean Paul – hier durchaus analog zum Hölderlin der Elegien und späten Hymnen – das Ungleichmäßige, Unüberschaubare der Wirklichkeit nicht nur als Handlungsgestrüpp, sondern bis in die Syntax, in die Stilbrüche und die genau kalkulierten Verletzungen der Grammatik dort, wo die deutsche Sprache nicht genügt. Bei dem Wort Traum etwa kommt er mit dem Simplex nicht aus, da wird auch vorgeträumt, nachgeträumt, erträumt und ausgeträumt. So weit treibt Jean Paul die Träume, daß in den Flegeljahren Walt zu träumen hofft, er sei der Traum der Geliebten – wie schön ist diese Vorstellung: zu träumen, daß ich ihr Traum bin. Aber die Sentimentalität, die hier so zart geschildert wird, voller Sympathie, kann einige Seiten später schon verulkt werden wie in der Phantasie, daß Wina eine Katholikin sei oder eine Polin oder Britin oder Pariserin und so weiter bis Evas jüngster Tochter oder dem guten armen Mädchen, »das am letzten auf der Erde lebt gleich vor dem Jüngsten Tage«, achtzehn Einbildungen lang, bis die Frau völlig beliebig wird.
    Den weitaus größeren Teil seiner Freizeit in Bandar Lengeh verbrachte Großvater freilich nicht mit theologischen Erkundungen, sondern mit seinen Kollegen Mirza Aziz und Mirza Abdolmadjid Namazi sowie zwei Indern, Herrn Moulawi und einem anderen, dessen Namen Großvater vergessen hat. Jener leitete die Vertretung des englischen Konsulats, dieser die örtliche Schule. An den meisten Abenden und allen freien Tagen trafen sich

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