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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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beziehungsweise Werke, sondern Bilder aus Schriftzeichen, Wortfolgen, die sich zunächst gar nicht, allmählich ganz anders eingraben als zuvor in ihrer intendierten oder konstruierten Entschlüsselung. Die Unmöglichkeit des Durchlesens ist dabei schon ganz praktisch die, daß es Monate dauern würde, um auch nur den ersten der neunzehn vorliegenden Bände gründlich zu studieren, und die eigentlich interessanten, späten Werke, wenn man von Werken sprechen darf, habe ich noch gar nicht aufgeschlagen, seit der Leser am heutigen Karnevalsdienstag, da es in der Gasse nicht auszuhalten war, frühmorgens ins Germanistische Seminar radelte, das gegen alles Brauchtum der Stadt geöffnet ist. Es ist das Prinzip des Korans, den durchzulesen ebenfalls unmöglich ist: Auf sieben Weisen wurde er herabgesandt, sieben als Unendlichkeitszahl, für jeden Vers sechzigtausend Erklärungen, 240.999 Wissenschaften nur in der Fatiha . Ist man anders als ein Philologe nicht darauf aus, einen ursprünglichen Sinn zu ermitteln, wird das Lesen zum mystischen Vorgang, wie ihn Ibn Arabi beschreibt: Jeder findet in den Zeichen, was sie gerade ihm und gerade jetzt bedeuten, und »Gott kennt alle diese Bedeutungen, und es gibt keine, die nicht der Ausdruck dessen wäre, was er dieser besonderen Person sagen wollte«. Für heute muß der Leser abbrechen, um rechtzeitig zum Veedelszug die Ältere abzuholen. »Auch Streben / der Schwächeren / Ziert, auch vergebener Schweis ist edel«.
    Er tut immer so, als lasse ihn der Karneval kalt. In Wahrheit mag er ihn. Die allgemeine Besoffenheit ist ekelhaft, die Musik nicht auszuhalten, die aus den Kneipen schallt, die Sitzungen, die er aus dem Fernsehen erinnert, ein unwirtlicher Planet. Er mag es, den Karneval von außen zu betrachten, mürrisch, unverkleidet, kopfschüttelnd. Er mag es, ein Paket bei der Post vorbeizubringen und sämtliche Beamte hinter den Schaltern in detailversessener Verkleidung anzutreffen, jeder in einem anderen Kostüm. Wenn eine kastanienbraun angemalte Dicke im buntverzierten Wildlederkleid, das einmal gepaßt haben wird, mit pechschwarzer Perücke, gehäkeltem Stirnband und einer Feder, die senkrecht am Hinterkopf steht, den Nachsendeauftrag bearbeitet, löst sich die Empörung über die dreißig Euro, die der schnöde Dienst neuerdings kostet, in Luft auf wie der Rauch ihrer Friedenspfeife. Die Bäckerfrau, die schon dem Erstsemester ihre Croissants verkaufte, sieht als Müllfrau einfach weniger verhärmt aus. Selbst das weitgehend türkische Personal des deutschen Supermarkts hat sich kölsch assimiliert etwas einfallen lassen, Seeräuber-Jenny, King-Kong, Onkel Doktor, alle sind sie da. Die Kebab-Restaurants und Dönerbuden haben als solidarischen Gruß Girlanden aufgehängt, zwei Teehäuser schenken auf der Gasse für einen Euro die Stange Kölsch vom Faß aus, die Export-Importe machen mit Trillerpfeifen und Clownsmasken ihr Geschäft des Jahres, was zugegeben nicht viel heißt, und vor den asiatischen Lebensmitteln steht ein chinesisches Ehepaar und klatscht in die Hände. Aus der Ferne ist der unwirtliche Planet ein leuchtender Stern. Und dann versetzt ihm regelmäßig der Karnevalsdienstag den finalen Schlag Lokalpatriotismus, an dem er unter dem Vorwand, die Ältere zum Veedelszug zu begleiten, auf Tuchfühlung geht, ohne Kostüm, versteht sich, schließlich ist er nur Aufsichtsperson und Kamellentütenträger, die schwarze Mütze bis über die Augenbrauen gezogen, dauerlächelnd angesichts der völlig durchgeknallten Bürger seiner Stadt, denen es mordsmäßiges Vergnügen bereitet, als Kannibalen, in Uniformen aus dem Dreißigjährigen Krieg oder mit Paul und Trompeten bei Regen durch ihr Viertel zu ziehen, von der diesjährigen Nubbelverbrennung gar nicht zu reden. Vielleicht hat es mit dem Rummel ringsum zu tun, daß die Ältere die Entscheidung der Eltern im Rahmen des Möglichen gefaßt aufgenommen hat. Die Frau hingegen scheint ihre Vorwürfe schon zu bereuen. Natürlich sagt sie es nicht. Das genau ist Teil ihres Dramas: daß keiner klein beigeben will, zwei Kontrahenten in einem Film, der längst keinen mehr interessiert, wie er an den Reaktionen der Verwandten und Freunde merkt, weil sich die Handlung seit langem im Kreis dreht. Das nächste Kapitel von Großvaters Leben liest sich

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