Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
Vom Netzwerk:
die fünf Freunde, schreibt Großvater und rühmt das Wissen und die Umgangsformen der beiden Inder. Einer von ihnen, Herr Moulawi, beherrschte die Kunst des Handlesens, die zu ihrer liebsten Beschäftigung wurde. Insbesondere das Studium von Mirza Abdolmadjid Namazis Hand füllte viele Stunden. – Namazis Hand ist ein Buch, das keine letzte Seite hat, sagte Herr Moulawi dann oft. In Großvaters Hand hingegen stand kaum etwas, und das kränkte ihn ein bißchen. – Keine Neuigkeiten, beschied Herr Moulawi knapp, wenn Großvater ihn überredet hatte, sich die Hand noch einmal anzuschauen. Einmal immerhin gelang Herrn Moulawi die Prophezeiung, daß viel Geld durch Großvaters Hände gehen werde, aber ihm wenig davon bleibe: Mit der einen Hand nimmst du, mit der anderen gibst du. Was auf Altruismus hinzuweisen schien, bestätigte sich später jeden Abend, wenn Großvater seine Handfläche betrachtete: schmutzig von den Münzen und Geldscheinen, die er den Tag über in der Nationalbank angenommen und ausgegeben, gezählt und sortiert, schmutzig von Nickel, Messing und Kupfer, Tinte, Staub und Fett. Nichts hat das Geld hinterlassen als Dreck, sagte er sich dann immer und dachte an Herrn Moulawi aus Indien.
    Wenn Hoffnung auf Schlaf wäre, würde der Mann sich am Freitag, dem 1. Februar 2008, um 22:09 Uhr ins Bett seines Büros legen, der Form halber noch etwas lesen, wenn schon nicht Jean Paul, dann Rolf Dieter Brinkmanns Rom, Blicke , und spätestens gegen elf Uhr das Licht ausschalten. Abgesehen von den Zugfahrten, Flügen und Hotelzimmern ist er bis Dienstag durchgehend auf Sendung, also auch tagsüber für sich unerreichbar. Das Problem ist, daß er über nichts hinweg ist, die Frau das Erlittene nicht losläßt. Er weiß, wie er sich verhalten müßte, ohne daß es ihm auch nur in Halbsätzen, Blicken oder gestischen Andeutungen gelingt. Die Bitterkeit, der Zorn, die Enttäuschung, die sie beherrschen, stehen in keinem Verhältnis zum Vorfall, den sie, obschon gravierend, allemal für verzeihlich hält. Umgekehrt hindern seine Wunden ihn daran, auch nur mimisch oder im Tonfall zu signalisieren, es tue ihm leid. Sie schirmt sich ab, weil sie nicht reden kann, weil alles, was sie derzeit sagen könnte, erst recht zum Eklat führen würde. Seit es passiert ist, warten sie darauf, daß sich die Gewöhnung einstellt, die Abstumpfung, all die plausiblen Gründe, warum sie fortfahren sollten mit den Einbildungen, die sich nach einer Weile wieder wie Überzeugungen anfühlen. Nichts wird weniger, im Gegenteil – erst abgelagert, dann aufgewühlt, werden die Vorwürfe erst recht zum Dämon. Normalerweise wäre keine Eile; er würde die Ellen ein paar weitere Tage vors Gesicht halten, bis sie ihm wieder freundlich Schlaf gut und Guten Morgen zu wünschen vermag, nun jedoch zieht er nächste Woche nach Rom, Montag sagen vielleicht die Australier zu, die sich für ihre Wohnung interessieren, ihnen müßten sie gegebenenfalls absagen, elf Monatsmieten ja oder nein, gut, die Nebenkosten muß man rausrechnen, dann entspräche die Einnahme immer noch fünfzehn Lesungen oder fünf Vorträgen, fünfzehn- oder fünfmal Enthusiasmus, fünfzehn- oder fünfmal drei oder vier oder auch mal fünf Sterne, unter denen die Fernbedienung quält, ohne daß Selberlebensbeschreibung oder Selbstbefriedigung in den Schlaf helfen. Und was ist mit der Älteren?, geht sie in Rom oder in Köln zur Schule?, die Frühgeborene sähe er jedes zweite Wochenende, das Kistenpacken würden sie sich sparen, so daß er einen weiteren Tag mit Hölderlin in der Kölner Germanistik verbringen könnte. Die Umstände zwingen zu einer Entscheidung, ja oder nein, die sich mit etwas Geduld von selbst ergäbe. »Wenn ich vol Liebe meine Arme um die geliebte Gestalt herumlege«, wußte es Jean Paul, »ist denn da zwischen diesem Zeichen und der bezeichneten Sache die mindeste Aehnlichkeit, da oft der Grol eben so gut umfasset, um zu erwürgen?«
    Die Revolution besteht nicht aus den Taten, für die der Herausgeber und sein Verleger 1968 demonstrierten, und nicht einmal aus Wörtern, sondern aus Schrifttypen: leichte Grotesk für frühere Textschichten eines Manuskripts, mittlere Grotesk für mittlere Schichten, schwere Grotesk für spätere Schichten, dazu schmale Grotesk

Weitere Kostenlose Bücher