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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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krabbelt, hallo, hören Sie mich?, ruft er ins Mikrophon, wenn er nicht gerade in einer Klinik vorspricht, um die Behandlung in Rom fortzusetzen, statt die nächsten Wochen ohne Familie in Deutschland zu verbringen, oder ist es möglich, daß die Ältere solange in Köln auf die Schule geht, aber nein, das ist Unsinn, sie in Rom aus der Schule zu nehmen, wo sie sich gerade eingewöhnt hat, der Hodenkrebs zu einer reinen Organisationsfrage geworden, läßt er sich in Rom behandeln und wenn ja, in welcher Klinik?, läßt er sich in Deutschland behandeln und wenn ja, ambulant oder stationär?, rein schulmedizinisch und/oder Naturheilkunde?, in Köln oder in der Fachklinik, wie es die Brüder empfehlen?, aber er kann Krankenhäuser doch nicht ausstehen, und was ist mit dem Samen, konservieren ja oder nein?, welche Blutuntersuchung braucht es dafür?, HIV , Hepatitis B und C , aber auch A , nein, A wird nicht benötigt, ja, A wird doch benötigt, wollen wir übrigens noch ein Kind?, fragt er die Frau, die einen Kaffee bringt, Spermatogramm in der Uniklinik oder in einer Praxis? Was ist überhaupt ein Spermatogramm? fragt er den Ophthalmologen, der ihm einen Termin in der Reproduktionsmedizin besorgt. – Hallo, hallo, hallo! ruft eine Frau in den Kopfhörer, ich kann Sie nicht hören. – Hallo, hallo, hallo? fragt er ins Mikrophon, ich versuche es noch mal über eine andere Verbindung. – Fuck fuck fuck, schleudert er das Headset zu Boden und schimpft über seine Pfennigfuchserei, die ausgerechnet jetzt durchschlägt, da es existentiell wird mit der gesetzlichen Krankenkasse, privaten Zusatzversicherung und Reisekrankenversicherung, die zahlt, was die private Zusatzversicherung nicht zahlt, die wiederum zahlt, wenn die gesetzliche Krankenkasse auch zahlt, die wiederum erst entscheidet, ob sie zahlt, wenn der Kostenvoranschlag vorliegt, für den der Patient den Arztbericht benötigt, schon wieder Sie?, ja, bitte faxen Sie endlich den Arztbericht, welchen Arztbericht?, verdammt noch mal, den Arztbericht!, ach so, den Arztbericht, jaja, die italienische Bürokratie, lassen Sie sich auf keinen Fall in Rom behandeln, ich habe sehr gute Erfahrungen in Rom gemacht, Übersetzung, wir brauchen eine Übersetzung, ich habe mir Ihre Nummer falsch aufgeschrieben, Verzeihung, welchen Arzt empfehlen Sie?, Sie müssen bei der Zentrale anrufen, Sie müssen in der Poliklinik anrufen, Sie müssen direkt mit dem Professor sprechen, Durchwahl, ja, ich spreche Deutsch, nein, ich spreche kein Englisch, aber der Arztbericht liegt noch gar nicht vor und der Chef der Kölner Uroonkologie soeben für eine Woche verreist. Solange er sich ihr anvertrauten konnte, kam er mit seiner Krankheit aus, ja, hatten sie ein geradezu freundschaftliches Verhältnis. Nun ist es umgekehrt, nun ist er zu ihrem Verwalter geworden und hängt von Sekretärinnen, Sachbearbeitern und Ärzten ab, kennt die Melodien von sechs verschiedenen Warteschleifen, drücken Sie bitte die Taste drei, richtet sich nach Mittagspausen der gesetzlichen, der privaten Zusatz- und der Reisekrankenversicherung, Schichtwechseln von Krankenschwestern, Operationsdienstplänen von Ärzten sowie dem Feierabend, der ihnen allen gegönnt sei. Wenn er im Callcenter endlich die richtige Tastenkombination herausgefunden hat, rast er in die Stadt, als müsse er Rom sehen und sterben, gleich nach der Porta Pia jedesmal Berninis heilige Theresia in Santa Maria della Vittoria, weil er zu große Ehrfurcht hat, um vorbeizuradeln, ohne vor dem Orgasmus in die Knie gegangen zu sein, den Gott ihr bereitet, zweihundert Meter weiter in den kaum besuchten Palazzo Barberini, wo auf zwanzig Metern Raffaels La Fornarina und Caravaggios Judith und Holofernes gehängt sind, um die EckeBorrominis winziger Kreuzgang in San Carlo alle Quattro Fontane, solche Wunder, daß er sie schon zu dosieren beginnt, seit er beim Anblick der Pietà an den Musiker in München dachte, der seine Mutter so hielt, in den Vatikanischen Museen daher für den Anfang nur schnurstracks zu Leonardos Heiligem Hieronymus oder in einer Seitenstraße der Via del Corso zufällig, weil er einer japanischen Reisegruppe folgte, der Moses von Michelangelo in San Pietro in Vincoli, der selbst Freud beinah bekehrt hätte, wirkliche Wunder wie der Koran, wenn man einmal davorsteht und nicht bloß eine Postkarte in der Hand hält. Die

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