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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Unfähigkeit, Gleiches hervorzubringen, darf man keiner Gegenwart vorwerfen. Das genau war die Herausforderung, so simpel, so mächtig: »Bringet doch zehn Suren, solche, / Gedichtete, und ruft dazu an / Wen ihr nur könnet, außer Gott, / Wenn ihr die Wahrheit redet.« Und später erleichtert Gott den Ungläubigen – um sie zu verhöhnen, wie die traditionelle Deutung es will – sogar die Aufgabe: »Bringet doch eine Sure, ihm gleiche, / und ruft dazu an, / wen ihr nur könnet, außer Gott, / wenn ihr die Wahrheit redet.« Hätte Großvater ihn begleitet, absolut sicher hätte er Gott wirken sehen. Er hätte gar nicht gewußt, wo ihm der Kopf steht vor so prächtigen Kirchen, auch stillen Kirchen, niemand mehr neben dir und du plötzlich vor Moses. Erst jetzt, da der Enkel übers Internet mit Versicherungen, Krankenhausverwaltungen und Ärzten in Dauerverbindung steht, begreift er, welcher Weltraum sich ihm auftut, und gibt also auch er den deutschen Dichter in Rom. Bald 13 Uhr am Donnerstag, dem 15. Mai 2010, um auf die Uhrzeit zurückzukommen. In einer Stunde muß er im Zug sitzen, der zum Flughafen fährt. Zwei Pyjamas, Jogginghose, Bücher, zwei Selberlebensbeschreibungen, Pantoffel, genügend Unterhosen, Socken, T- Shirts und so weiter. Rasiergel diesmal nicht vergessen, oder fallen auch die Schamhaare aus?
    Â»Wenn ich mir vorstelle, daß ich nur noch kurze Zeit zum Leben habe, dann erschrecke ich«, sagt in der Zeitung vom 15. Mai 2008 ein Philosoph, der mit achtzig Jahren so alt ist wie der Vater, der Schreiner und der Herr, der sich im Bergischen Land verlief: »Nicht weil ich unbedingt weiterleben will, sondern weil ich finde, dass ich mich verzettelt habe und eigentlich ganz anders leben müßte.« »Und wie?«, fragt die Zeitung. »Das weiß ich nicht. Ich habe nur diese Sorge, daß ich die Hauptsache verpaßt haben könnte. Allerdings ist dieses Gefühl inzwischen durch die Mystik an den Rand gedrängt worden.« »Aber wie kann Mystik helfen?« »Sie hilft erkennen, daß man sowieso nicht so relevant ist.« »Wenn man selbst nicht wichtig ist – woher stammt dann die Motivation, zu leben? Ist es nicht lähmend, zu glauben, alles sei wichtig, nur man selbst nicht?« »Nein, ich bin genauso wichtig – aber eben nur genauso. Im übrigen habe ich durchaus philosophische Ambitionen und freue mich, wenn ich Erfolg habe mit meinen Sachen, aber das verachte ich eigentlich. Ich versuche, mich weniger wichtig zu nehmen, aber faktisch erlebe ich, wie wichtig ich mich nehme.« Die nagende Unsicherheit tröstet über die happy old men hinweg, die in den Magazinen gewöhnlich über den Tod Auskunft geben, als seien sie Werbeträger einer Lebensversicherung.
    Seltsam genug, als Mann allein in einer gynäkologischen Praxis vorzusprechen, die Arzthelferinnen zuvorkommend und auch der Reproduktionsmediziner nett, gespenstisch die Normalität aller Gesten, Blicke und Hinweise, hier ist der Becher, dort ist das Zimmer, bitte stellen Sie den Becher anschließend in die Durchreiche, gespenstisch deshalb, weil der Samenspender der einzige zu sein schien, der nichts daran normal fand. Wie Hölderlin im Turm hatte er den Eindruck, daß alle anderen verrückt seien und nur er in der Wirklichkeit lebe. So bewußt er sich der Routine war, mit der ihn die Arzthelferin einwies, hätte er ihr gern gestanden, daß es für ihn alles anders als Routine ist, auf Einweisung zu ejakulieren. Offenbar finden andere Männer es keineswegs peinlich, man kann sogar Geld damit verdienen, hat der Patient recherchiert, zweihundert Euro für jeden Samenerguß, drei-, viermal im Monat wäre es ein prima Nebenverdienst, fünfmal die Woche ein Beruf, er hingegen, er hat definitiv ein Problem, merkt er am Freitag, dem 16. Mai 2008, um 10:23 Uhr, da er mit heruntergelassener Hose seinen Opi aufzurichten versucht. Für ihn lästert es Gott, das Geschlecht so ausschließlich funktional zu handhaben wie in der katholischen Morallehre oder so kalt wie in den Romanen, wie er sie früher schrieb. Vielleicht spielt die Herkunft doch eine Rolle, daß ihm der Stolz so oft im Weg steht, vielleicht seine Religiosität: Größer könnte die Diskrepanz zwischen der Bedeutung des Akts – Schöpfung immerhin, nichts weniger – und des tatsächlichen Vorgangs nicht sein. Die

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