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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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daran, daß auf der Welt alles mit allem verbunden ist, kann jede unserer Bewegungen an anderem Ort eine Erschütterung auslösen – selten dort, wo wir es erwarten. Deshalb fahre ich fort, glaube ich, in vollem Bewußtsein, daß ich nichts bin und dennoch jede Sekunde etwas über meine Zeit hinaus bedeute, oder wie unsere Religionen lehren: für alle Zeit. Sinn hat das Leben, indem die Menschen tun, als habe es welchen. / Nun ja, das kommt dabei heraus, wenn Du mich vor ein Meer setzt mit der Frage, ob ich den Eindruck hätte, etwas zu hinterlassen, und ob das einen beruhigen könne. Was weiß ich denn. Vor drei Tagen erst hatte ich Lebensphilosoph Streit mit meiner eigenen Mutter – soviel zu meiner Weisheit. Der Streit wird vorüberziehen, natürlich, er ist fast schon vorübergezogen. Und doch ist es von Mal zu Mal schmerzhafter, sich in alten Fäden zu verfangen, sich einzugestehen, daß sie sich noch immer um einen spinnen. Der Unterschied zu früher besteht lediglich daran, daß ich mich währenddessen beobachte, mir zurufe, es nicht dazu kommen zu lassen, die Reue voraussehe, ferner in der Fähigkeit, die Eskalation abzuwenden, schon bald danach mit dem Alltag fortzufahren, das gemeinsame Essen, gewöhnlich wirkende Gespräche, die Distanz so, daß sie der übrigen Familie nur bei genauerem Hinsehen auffiele. Der Unterschied besteht darin, daß ich nicht sofort abgereist bin.«
    Der Anlaß des Streits war so banal wie immer, eine der üblichen Indiskretionen der Mutter, über die der Sohn hätte hinwegsehen können; er schimpfte auch nicht, sondern forderte sie – allerdings in seiner üblichen Barschheit, wie ihm der Internist hinterher vorwarf – lediglich auf, das Thema zu wechseln. Die pathetische Wehklage der Mutter, daß ihr über den Mund gefahren werde, sobald sie ihn öffne – dabei redet sie die ganze Zeit –, und ihr Leben überhaupt vertan sei, weil ihr Mann und die Söhne ihre Entfaltung verhindert hätten, die Männer alle miteinander außer ihrem armen Vater, ignorierte der Jüngste noch. Später am Abend hörte er, wie die Mutter sich im Flur lauthals darüber beschwerte, im Haus nur die »Bedienstete« zu sein, kolfat , wie sie auf persisch sagte, das ist noch verächtlicher gemeint, darin drückt sich der ganze Klassendünkel der iranischen Großbürgerin aus. Sie sprach so laut, daß die ältere Tochter des Sohns aufwachte, sprach im Zorn, gewiß, und sie übertreibt schon maßlos, wenn sie nur vom Einkauf berichtet, ihre Drastik war der Jüngste also gewohnt, dennoch will man als Sohn nicht, daß die eigene Mutter so über einen denkt, will als Vater nicht, daß die eigene Tochter so etwas über einen hört, wobei der Jüngste nicht allein gemeint war, sondern sie alle, ihr Mann, alle vier Söhne, die Schwiegertöchter, die Enkel, für alle sei sie nur die kolfat . Der Jüngste ging immer noch nicht auf ihren Vorwurf ein, bat sie nur wieder und wieder zu barsch, leiser zu reden oder nicht gerade vor der Tür des Kinderzimmers. Als er sie am nächsten Nachmittag sah, sprach er sie an. Nicht anders als in dieser Minute, 10.57 Uhr am Montag, dem 21. Juli 2008, saß die Mutter allein auf der Terrasse und beugte sich über ihre Erinnerungen, die vielleicht sogar für ein Publikum in Deutschland anregend sind. Den Hang zum Pathos, in dem ihre Neigung zur Übertreibung mitschwingt, könnte ein Lektor leicht beheben. In letzter Zeit, sagte sie, flechte sie immer öfter ein, was ihr gerade durch den Kopf geht, Erlebtes oder Gedachtes der Gegenwart, und so habe sie auch über den Streit geschrieben, der sie in der Nacht nicht habe schlafen lassen. Der Jüngste hatte sich fest vorgenommen, den Streit nicht fortzusetzen, ihn am besten mit einer Umarmung aus der Welt zu schaffen, selbst wenn sich nichts geklärt, er einmal nicht recht behalten hätte. Aber da sie nun damit angefangen hatte, und in so ruhigem Ton, fragte er sie dennoch nach ihrer Bemerkung, sie sei nur die kolfat der Familie, er wolle nur wissen, wie sie es gemeint habe, und wenn sie es so gemeint habe, wie sie es gesagt, sei es ja auch gut, er würde nicht widersprechen oder mit ihr diskutieren wollen, sondern nur die Konsequenzen ziehen, falls es ihr Eindruck sei, damit sie nicht mehr denke, sie würde im Haus nur bedienen, damit sie es nie mehr von ihm

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