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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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genauso durchgeknallt wie wir eigens aus Deutschland angereist war. Nachts schauten wir uns im Sportkanal noch die Wiederholung des Halbfinalspiels zwischen Deutschland und der Türkei an, die wir jauchzend im Hinterzimmer einer Spelunke entdeckten, stöhnten im Chor bei den Werbepausen auf, die alle zehn Minuten das Spiel unterbrachen, hatten die Handys ausgeschaltet, damit keine Kurzmitteilung das Ergebnis verriet, und wären fast einer hübschen Französin an die Gurgel gesprungen, die in der fünfzigsten Minute ein Gespräch mit der Bemerkung einzufädeln versuchte, daß Deutschland 3:2 gewonnen hat. Der behandelnde Onkologe hatte schon recht, daß die Wirkung bei manchen gar nicht so schlimm sei.
    Heute bereits am Morgen zu müde, schaut er sich auf dem Liegestuhl unter der Terrasse, wo er vor zwei Jahren Frankreichs Nummer zehn nachweinte, einen Film über Rolf Dieter Brinkmann an, den er in Rom auf seine Allmacht lud und noch nicht angesehen hat, weil der Regisseur der gleiche Harald Bergmann ist, der schon den Film über Hölderlin verspielte. Während die Super-8-Kamera auf das stumme Gesicht gerichtet ist, behauptet Brinkmann aus dem Off, sich seit 1969 nicht mehr mit Literatur zu beschäftigen, und schildert seinen Umzug in eine Mühle ohne elektrisches Licht, wo er nachmittags vor seinem kleinen Sohn heulend in der Küche gesessen habe. Vollkommen runter und fertig sei er gewesen, übernervös, übererhitzt, wie er es außerdem nannte, ohne Geld. Die Frau war abgerückt, so nennt er das: abgerückt wie von einem Kriminellen oder jemandem mit Ansteckungsgefahr. Weshalb hat sie dann den Sohn bei ihm gelassen? Brinkmann sieht nicht nur anders aus, als er schreibt, die weichen, etwas aufgeschwemmten Gesichtszüge, er hat außerdem eine viel mildere Stimme, und sein gesprochenes Deutsch ist sehr schön, schmucklos bis zum Schülerhaften, nicht kölsch, natürlich nicht, da Brinkmann genausowenig Kölner ist wie ich, mit gedankenlosen Superlativen wie absolut, total, vollkommen sowie über und über, die er sich nicht einmal in Rom, Blicke in der Häufung erlaubt, alles Gesagte so unmittelbar, als spräche ein Mensch nachts zu seinem ältesten Freund. Das will ich auch, geht dem Romanschreiber durch den Kopf. Die Möwen, das Meeresrauschen, das Jauchzen der Kinder, die mit ihrer Großmutter auf der Terrasse Schabernack treiben. Mit den eigenen Kindern etwas anderes als Rommé zu spielen, hatte die Mutter keine Geduld, als ihr Leben noch unendlich schien. Immer hat sie geschummelt, das war ihre Art, und seine war, im Stehen zu drohen, nie mehr mit ihr zu spielen. Daß der ganze Spaß doch im Schummeln liege, fand der Jüngste keineswegs komisch. Unter den Fehlern, die er In Frieden begeht (der Titel, in den er sich verliebt hat, ist selbst schon ein Fehler, da niemand eine Spelunke assoziieren wird), beschäftigt ihn am meisten der, daß er unter Umständen nichts mehr hat, um es ins Gedächtnis zu rufen, wenn alles schon aufgeschrieben ist. Raul Hilberg etwa bewegte ihn so, daß er seinen Eindruck sofort aufzeichnete. Als Hilberg starb, hatte er nichts hinzuzufügen. Das bedeutet, daß man, utopisch gesprochen, keine Geschichte mehr brauchte, wäre bereits die Gegenwart erzählt. Das bedeutet, daß die Übersetzerin Dostojewskis nicht im Roman sterben wird, den ich schreibe. Vielleicht auch aus dieser Sorge – wann wäre überhaupt Gelegenheit gewesen? – trägt er ein Gespräch mit seiner Cousine in Isfahan nicht nach, in dem sie das Sterben ihres Vaters Taghi Madani schilderte, obwohl der Romanschreiber es sich die ganze Zeit vornimmt. Das genau ist der Fehler, über den er am häufigsten nachdenkt: die Frage, etwas festzuhalten oder nicht festzuhalten. Danach ist die Antwort in jedem Fall ein Fehler. Sollte er den Roman, den ich schreibe, doch jemals bearbeiten – nur wozu, wenn mit dem Verleger der einzige, der an ihn glaubte, so deutlich sein Desinteresse bekundet? –, könnte der Romanschreiber den Absatz über Raul Hilberg nach hinten rücken und zu einem Gedächtnis umschreiben, falls mit einem zusätzlichen Kapitel etwas gewonnen wäre. In der Sekundärliteratur leuchtet mir ein Hinweis auf Gustav Mahlers Erste Symphonie ein, der erklärt, warum der Titan nicht mehr im kleinbürgerlichen Milieu Jean Pauls, der Groschengalerie des Welttheaters, spielt,

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