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die Wochen in Tschamtaghi neben den Freuden und Genüssen ihre Beschwernisse und sogar Qualen, besonders im Sommer. Es gab keine Möglichkeit, das Wasser zu reinigen und vor allem kein richtiges Abwassersystem. Manchen Sommer herrschte Dürre oder fielen gewaltige Schwärme von Heuschrecken über die Felder her und machten den Ertrag eines ganzen Jahres zunichte. Immer wieder wurde jemand so krank, daà wir um sein Leben fürchteten, ob nun an Fieber, an Malaria oder an chronischem Durchfall, bei denen der Kranke am Ende nur noch Blut ausschied, ob an Trachom«, einer damals verbreiteten Augenkrankheit, »an Entzündungen, Schwellungen oder Magenkrämpfen, die einen vor Schmerz zu zerreiÃen schienen. Auch ich muÃte meinen Anteil an diesen Krankheiten tragen, und wären nicht die Pflege meiner Mutter, die Tröstungen meines Vaters und die Behandlung unseres Hausarztes Doktor Aziz Mirza Ahmad Chan Mohyi gewesen, ich hätte bestimmt nicht überlebt. Mehr als einmal brachte mein Vater mich in aller Eile zurück nach Isfahan. Im Arztzimmer schlug ich so wild um mich, daà er mich nur mit Hilfe der Schwestern fest genug packen konnte, damit Doktor Mohyi zur Behandlung des Trachoms meine Augenlider verbrannte. Meine Tränen und Hilfeschreie zündeten das Herz meines Vaters mit an. Es gab keine andere Methode, um zu verhindern, daà ich blind wurde. Auch wenn wir Bauchkrämpfe hatten oder einen der chronischen Durchfälle mit Blut, muÃte mein Vater uns an Händen und FüÃen festhalten. Meine Mutter öffnete mit den Fingern der einen Hand unseren Mund und schüttete uns mit der anderen Hand Löffel um Löffel Rizinusöl in den Rachen. Wenn sie damit fertig war, lieà mein Vater uns immer noch nicht los, denn wir muÃten noch das Abführmittel schlucken. Danach kam das nächste Kind an die Reihe, das sich vor Angst in die hinterste Ecke des Zimmers geflüchtet hatte. Wenn wir uns kurze Zeit später übergaben, hielt mein Vater uns wieder fest, aber diesmal ganz zärtlich. Wenn ich mich dann umdrehte, sah ich, daà seine Augen voller Tränen waren, und ich kroch in die Arme meines Vaters, der erschöpft zu Boden sank. Stunden dauerte es, bis alle Kinder die Behandlung hinter sich hatten, und in dieser Zeit war das Haus erfüllt mit dem Lärm unserer Schreie, Wehklagen und vergeblichen Proteste. Endlich, wenn die Bauchschmerzen und mit ihnen der Schrecken nachlieÃen, kehrte Stille ein. Von da an war es eher eine Angelegenheit von Minuten als von Stunden, bis wieder das erste Kichern zu hören war, und schon bald fingen wir wieder an zu spielen.«
Auf den Einwand des Sohns, daà nicht einmal die glücklichste Kindheit nur aus Freuden bestünde, verweist die Mutter auf die Schilderung der Krankheiten und qualvollen Behandlungen, auf Trachom und Rizinusöl. Ihre Aufzeichnungen haben noch eine zweite beklemmende Stelle, wo sie den Horror ihrer ersten Monatsregel beschreibt. Insgesamt freilich, so beharrt der Sohn unterm Headset, sei die Darstellung ihrer Kindheit und Jugend, wenn sie schon nach seiner Meinung frage, bei aller zugegebenen Farbigkeit zu süÃlich ausgefallen. Iran sei doch in den dreiÃiger Jahren kein Märchenland gewesen, in dem wunderbare Eltern die liebreizenden Kinder mit köstlichen Aprikosen versorgten, und auch Isfahan nicht aus Tausendundeiner Nacht. Ob denn nur Sadegh Hedayat die Kinder der Armen in den Nutzwasserkanälen entlang der StraÃen planschen gesehen habe, die ihren Eltern zugleich als Waschtröge, Toiletten und Trinkwasserbrunnen dienten, nur Sadegh Hedayat sich die Nase zuhalten muÃte, weil die Luft nach Kot und Urin roch, nur Sadegh Hedayats Augen vom Rauch der Dungfeuer brannten, mit denen die Armen heizten und kochten? Daà sie als Sechsjährige nicht über die gesellschaftlichen Zustände nachdachte â geschenkt. Dennoch könne sie im Rückblick durchaus das Elend bedenken, das um sie herum geherrscht haben muÃ, und auf die krassen sozialen Unterschiede eingehen, die immer wieder zu Unruhen führten und schlieÃlich zur Revolution von 1979, in deren Verlauf so gut wie alle Mitglieder des Bürgertums und der Aristokratie aus den Führungsetagen der Ãmter, Ministerien, Botschaften und Staatskonzerne durch Angehörige der untersten Schichten ersetzt wurden. â Sehen Sie denn nicht, fragt der Sohn, den Zusammenhang zwischen den
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