Dein Name
lieber klagen als bedenken, daà das Schicksal dem Augen-Wundarzte gleicht, der gerade in der Minute, ehâ er dem einen blinden Auge die Lichtwelt aufschlieÃet, auch das andere sehende zubindet und verdunkelt?« Normal gewesen wäre es an einem Tag, dessen Pensum frühzeitig erfüllt war, erleichtert zu sein. Nichts davon: Obwohl der Romanschreiber immer noch fünf Kilo mehr wiegt als ohne Carboplatin, konnte er sich nicht zum Joggen aufraffen, spielte sterbenslangweiliges Boule mit, weil die Familie in Köln ist und ihm allein in Rom nichts Besseres einfiel, fand bis nach China ein paar weitere Nachrufe auf Mahmoud Darwisch, es war immer noch zu früh zum Schlafen, legte sich zum ersten Mal vor den neuen Fernseher, ohne daà FuÃball lief, ging spazieren in der Nachbarschaft, die komplett verreist zu sein scheint. Er achtete auf die Uhr: Bis zu sechs Minuten sah er weder einen Menschen noch ein Auto, nicht an Kreuzungen, nicht auf der achtspurigen Nomentana. Die StraÃen sind dennoch beleuchtet, die Müllabfuhr fährt für wen auch immer lärmend ihre Runde. Gestern suchte er vergeblich einen Schuster, Brot fand er erst in der dritten Bäckerei, selbst die Eisdiele geschlossen. Die Freundin von Nummer sechs ist zur Notaufnahme gefahren worden, das Morphium auf die höchstmögliche Dosis verdreifacht. Beim Schwiegervater des Orthopäden traten Blutungen auf, die nach ein paar Stunden eine zweite Operation erzwangen. Bereits am Abend durfte er ins Glied zurücktreten. Der Romanschreiber weià nicht, wann das eigentlich frömmste Anliegen sich in eine solche Perversion verwandelt hat, daà er die Toten geradezu erwartet und in seinem Haus unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten, die In Frieden poetologische sind, eher zu wenig gestorben wird. Vermutlich ist das Anliegen selbst von Anfang an pervers gewesen. Wie die Müllabfuhr tut er seinen Dienst, auch wenn niemand stirbt, läuft auf den Fluren, sieht im Park nach den Gräbern, schmückt das eine oder andere etwas heraus und kümmert sich in der übrigen Zeit um seine eigenen Dinge, da er sich schlieÃlich nicht in Luft auflösen kann. Die Mülltonnen scheinen noch lauter zu scheppern, wenn so wenig drin ist. Der Agent wird ihn bestimmt nicht wieder bedrängen.
»Als ich gröÃer wurde, bestieg ich mit meinen Schwestern und Cousinen die umliegenden Berge. In der ganzen Gegend gingen nacheinander die weiÃen, roten und rosaroten Blüten der Mandel-, Pistazien-, Pfirsich-, Aprikosen-, Quitten- und Kirschbäume auf. Die federleichte Brise, die vom schneebedeckten Zaghros-Gebirge wehte, erweckte jede Seele zu neuem Leben, ob jung oder alt. Der breite Fluà strömte so schnell durchs Tal, daà weiÃe Kronen auf dem Wasser tanzten. Von den kahlen Kuppeln blickten wir auf die Obstplantagen, die sattgrünen Felder und die Kühe, die entfernt im Gras weideten. Zauberhafter als dieser Blick von oben waren nur noch die Vollmondnächte.« Obschon ich ihn nicht so besingen könnte, habe ich den Frühlingsanfang in Tschamtaghi noch genauso erlebt und als Jugendlicher dort die gleichen Ausflüge unternommen. »In jeder Jahreszeit hatten die Freuden genauso wie die Beschwernisse ihren eigenen Geschmack. Im Sommer, wenn wir länger in Tschamtaghi blieben, war es oft unerträglich heiÃ, aber um so erfrischender, in den Fluà zu tauchen, der das eiskalte Schmelzwasser trug. Noch lustiger war es, jemand anders in den Fluà zu schmeiÃen, mit vereinten Kinderkräften einen der Erwachsenen! Alle Tage spielten wir oder stellten Streiche an, selbst die Flucht vor den Mücken geriet zum wilden Spaà und wie erst die Stunden zu zehnt oder zu zwanzig, wieder groà und klein, in dem Mückenzelt, das über die gesamte Terrasse gespannt war. Nie wieder hat Obst süÃer und saftiger geschmeckt als jenes, das wir Kinder in Tschamtaghi um die Wette pflückten. Abends hockten wir uns auf die riesigen Tücher, die auf der Veranda ausgebreitet waren, und aÃen, was auf den Feldern angebaut wurde. Heute noch habe ich das Aroma mancher Speisen auf der Zunge und wie es sich vom Aroma der gleichen Speisen in Isfahan unterschied.« Die Diagnose liegt um 11:49 Uhr endlich vor, die Prognose noch nicht. Die Nummer zehn hinterläÃt eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter der Nummer sechs, immer noch Mittwoch, der 13. August 2008. »Doch wie gesagt hatten
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