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Lektüre des Korans verbrachte. Für ihn waren solche Rituale, bei denen es nur darum zu gehen schien, wer am lautesten kreischt, nichts als Aberglauben und Volksverdummung. Kleinlaut schlichen wir in unsere Zimmer, Mama in die eine, wir Mädchen in die andere Richtung, Mah Soltan und Djahan durch das Atrium zum Trakt der Bediensteten. Am nächsten Abend zogen wir aufs neue los.« In der Abscheu, die die traditionellen â GroÃvater hätte gesagt: kadscharischen, also neumodischen, Riten â bei ihm hervorriefen, war er sich einig mit dem Atheisten Sadegh Hedayat, der in seinem Reisebericht aus dem Isfahan jener dreiÃiger Jahre eine Trauerprozession giftig kommentiert. GroÃmutter könnte mitmarschiert sein, eine schlanke, hochgewachsene Gestalt unterm Tschador.
»Am herrlichsten war die Zeremonie in den Opfernächten, also am 19. 21. und 23. Tag des Ramadans, die mit dem Martyrium Imam Alis zusammenfallen. Dann fand in den meisten Moscheen ein ehyâ statt, ein Gemeinschaftsgebet, das etwa um Mitternacht begann und bis zum Morgen dauerte. Nach der Rezitation, Ãbersetzung und Deutung des Korans sowie der Predigt brachte der Geistliche die Gemeinde zunächst mit dem Trauergesang in die entsprechende Stimmung. Wenn das Weinen, Wehklagen und Brustschlagen schon seinen Höhepunkt erreicht zu haben schien, erloschen plötzlich die Lichter. Der Geistliche nahm seinen Turban ab und hielt den Koran über seinen Kopf. Alle Männer und Frauen erhoben sich und breiteten die Arme mit den Handflächen nach oben aus. Dann fingen sie erst richtig an zu heulen. Jeder und jede versank ins lautstarke Zwiegespräch mit Gott, brachte alle seine Bitten und Klagen vor, bereute seine Sünden, gelobte Besserung, erflehte die himmlische Gnade und rief jeden der zwölf Imame einzeln an, Fürsprache einzulegen. Der Lärm war unbeschreiblich. Heute würde ich sagen, daà wir in einen kollektiven Rausch gerieten, in Raserei. Die Tränen flossen, die Arme kreisten, die Knie zitterten, Hände und Körper stieÃen im Dunkeln aneinander, ohne daà man noch mitbekam, wem sie gehörten, der Geruch des SchweiÃes, der einem buchstäblich den Atem nahm â bis wie auf ein Kommando die Stimmen abebbten, die Gläubigen sich beruhigten, hier und dort in der Moschee wieder die wunderschönen, die herzzerreiÃenden Trauergesänge einsetzten, durchsetzt nur noch von leisem Wimmern. Das waren die ergreifendsten Minuten. Die Lichter wurden wieder angezündet, auch die Singenden und Wimmernden wurden still, der Geistliche und mit ihm die Gläubigen wandten sich in Richtung Mekka und riefen laut âºFrieden sei mit dir, o Gesandter Gottesâ¹. AnschlieÃend wandten sie sich nach rechts und riefen âºFriede sei mit dir, o Imam der Zeitâ¹. Damit war die Versammlung beendet. Ich liebte das Gemeinschaftsgebet, ich genoà die Gefühlsausbrüche, ich war verrückt nach den Gesängen. Von allen Sorgen und Kümmernissen befreit, selig gingen, nein, schwebten wir gleichsam nach Hause, wo wir Papa oft noch über den Koran gebeugt antrafen. Selbst in den Opfernächten, wenn ganz Isfahan auf den Beinen war, hielt er sein Zwiegespräch mit Gott allein auf seinem Teppich. An Gemeinschaftsgebeten nahm er nur freitags teil, und dann auch nur, um die philosophischen und spirituellen Erörterungen des Ajatollah Hadsch Agha Rahim Arbab zu hören, des berühmtesten und verehrtesten Mystikers der Stadt, und Seite an Seite mit den anderen Sufis zu beten.«
Auf die Frage, warum er sich weigere, die Meisterwerke Raffaels und der Antike auch nur zu studieren, soll Caravaggio in eine Menschenmenge gedeutet haben: Dort habe ich Vielfalt genug. Unter seinen Gemälden in Rom ragen für mich die Kreuzigungen, Verbrennungen, Ermordungen und Martyrien hervor, am höchsten die Grablegung Christi, Judith und Holofernes sowie die Kreuzigung Petri, die mich vielleicht deshalb noch ein wenig mehr schockiert, weil sie mir nicht in einem Bildband oder einem Museum begegnete, sondern in einer Kirche, wo sie in genau der Nische hängt, für die Caravaggio das Gemälde im Jahr 1600 schuf, ein paar Meter entfernt vom Campo di Fiori, auf dem Anfang desselben Jahres Giordano Bruno verbrannt wurde, und man »ohne Vorankündigung«auf sie stoÃen kann, um an die Nachricht des Ophthalmologen aus dem Segelurlaub anzuknüpfen, vor dem Gottesdienst oder nach
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